Ich hatte Angst

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"Du erinnerst dich an mich."

"Aber weißt du woran du dich nicht erinnerst?", zischt der Schwarzhaarige. "Woran erinnere ich mich nicht?", kann ich lediglich erwidern. "Daran, was für ein Chaos deine Mom in meinem Leben hinterlassen hat."

"Hat dir dein Dad jemals erzählt, wieso deine Mom gestorben ist?"

"Der Mann, der im anderen Unfallauto saß, war mein Dad! Zweieinhalb Jahre lag mein Dad im verdammten Koma. Ich habe mir immerzu eingeredet, dass mein Dad stolz auf mich wäre."

"Lebst einfach das Leben, dass ich nie leben werden kann."

"Du hast gesagt, wenn ich irgendwann Leid ertragen muss, bist du da und nimmst es mir."

"Bereit zu leiden?", flüstert er. Bevor Theo irgendetwas tun kann, was mich in Schwierigkeiten bringt, rufe ich aus vollem Hals nach Luca.

Die Tür springt auf und ein zu allem bereiter Luca erscheint. Dicht hinter ihm steht unser Direktor. "Immer das Gleiche mit dir, Joyce", lacht Theo, bevor er einfach den Raum verlässt.

"Geht es dir auch wirklich gut?", fragt der Blondschopf zum wiederholten Mal. "Ja, verdammt!", blaffe ich ihn einfach so an. Leicht gekränkt blickt er mich an, während er mitten auf dem Flur stehen bleibt. "Ich mache mir doch nur Sorgen um dich." Wissend nicke ich. Kurz darauf schließe ich ihn in meine Arme. Ohne nachzufragen zieht er mich enger an sich heran und vergräbt sein Gesicht in meinen Haaren. Ich fühle mich geborgen. Genau das, was mir nach dem Gespräch fehlt.

Den ganzen Schultag über starre ich schweigend aus dem Fenster. In keinem einzigen Unterricht melde ich mich auch nur einmal zu Wort. "Ich hoffe, dass das nicht zu einer Gewohnheit wird", spricht mich meine Englischlehrerin nach der letzten Stunden an. "Nächstes Mal bin ich wieder vollkommen dabei", versichere ich ihr mit einem halbherzigen Lächeln.

"Wenn du reden willst, kannst du mich jeder Zeit anrufen", fängt mich Zoey am Schultor ab. "Werde bei Gelegenheit auf dein Angebot zurück kommen", nicke ich ihr zu.

Den Schlüssel im Haustürschloss muss ich nur um 90 Grad nach rechts drehen. Mein Dad ist also schon zuhause.

"Warum hast du es mir nie erzählt?", konfrontiere ich direkt meinen Dad, der entspannt mit einer Zeitung auf der Couch sitzt. "Was habe ich dir nicht erzählt?" Interessiert legt er das Klatschblatt weg und richtet sich auf. "Ich will wissen, warum du mir nicht erzählt hast, wie der Unfall von Mom zustande gekommen ist. Warum hast du mir nicht gesagt, dass Theos Vater im anderen Auto saß? Wusstest du, dass er im Koma lag?", sprudeln die Wörter aus mir heraus.

Stille breitet sich aus. Abwartend sehe ich meinem Dad dabei zu, wie er immer wieder seinen Mund öffnet, aber sofort wieder schließt ohne etwas gesagt zu haben. Nachdem ich den Sekundenzeiger der Wohnzimmeruhr schon zum 253. Mal ticken höre, verlasse ich den Raum.

"Joy! Princess, bitte", ertönt es, als ich bereits oben im Flur stehe. Unüberhörbar schließe ich meine Zimmertür.

Gerade bin ich dabei, meinen vierten Cranberry Riegel zu essen, als es an meiner Zimmertür klopft. Da ich nicht antworte, klopft es erneut. Danach wird die Türklinke hinuntergedrückt. "Joy ich möchte bitte mit dir reden", dringt die gedämpfte Stimme meines Dads durch das Holz. Doof gelaufen für ihn, dass ich meine Tür abgeschlossen habe.

"Ich hatte Angst." Dieser Satz bringt mich dazu meine Augen wieder zu öffnen, die ich vor einigen Minuten für ein kleines Schläfchen geschlossen habe. "Wovor?", rufe ich von meinem Bett aus. In etwa kann ich erahnen, dass sich mein Dad gerade aufrichtet und seine Kleidung in Ordnung bringt, da er zuvor an meiner Tür hinab gerutscht ist. "Davor, dass du ein falsches Bild von deiner Mom mit dir trägst." Stille.

"Ich hatte Angst, dass du ein falsches Bild von mir bekommst." Stille.

"Was bin ich denn für ein Mensch? Lasse Caronas beste Freundin einfach alleine. Fliehe vor allen Problemen. Reiße meine Tochter aus ihrem gewohnten Umfeld. Bringe es nicht über mich, bei den Eatons anzurufen, um mich zu erkundigen, wie sie mit alldem klar kommen." Stille.

"Weißt du Joy? Je länger ich es vor mir hergeschoben habe, dir etwas über den Unfall zu erzählen, desto schwieriger wurde es, mich selbst davon zu überzeugen, es eines Tages zu tun." Stille.

Ein nächstes Mal blicke ich meine Tür an, als ich von meinem Kopfkissen hochschrecke. Ich bin tatsächliche für eine Stunde weggedöst.

Der Platz vor meinem Zimmer ist leer.

Das Wohnzimmer ist leer. Die Zeitschrift liegt unberührt auf dem Tisch.

Mein Weg führt mich in das Schlafzimmer meines Dads. Leise beobachte ich die mit dem Rücken zu mir gekehrte Gestalt. "Es tut mir leid", entschuldigt sich der braunhaarige Mann. Sachte stellt er den Bilderrahmen, den er in seiner Hand hält, zurück auf seinen Nachttisch.

Auch seine Umarmung lässt mich geborgen fühlen. In diesem Augenblick verzeihe ich ihm.

Weil er mein Dad ist.

Weil ich ihn liebe.

Meine Augen starren unaufhörlich in die Dunkelheit. Immer wieder lasse ich den heutigen Tag Revue passieren. Die roten Ziffern meines Weckers zeigen vier Mal die gleiche Zahl. Mitternacht. Mir kommt in den Sinn, dass weder bei meiner Mom, noch bei Theos Dad der Tod voraus gesehen werden konnte. Mir wird bewusst: Das Leben ist kurz.

In Gedanken zitiere ich einen Spruch, den mir Amber letztens über Skype geschrieben hat.

Breche alle Regeln. Aus keinem bestimmten Grund, muss ich an Zoey denken.
Vergebe schnell. Vor meinen Augen schwebt das Gesicht meines Dads.
Küsse bedächtig. Liebe ehrlich. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, als ich darüber nachdenke, ob sich dieser Vorsatz mit Luca erfüllt.
Lache ohne Ende. Vergiss nie, wer dich zum Lächeln gebracht hat. Von einem Entschluss gepackt, werfe ich meine Bettdecke zurück und schwinge meine Beine über die Bettkante. Meine Fußsohlen berühren den kühlen Boden. Mit meinem Handy in der Hand stelle ich mich an meine Balkontür. In wenigen Sekunden habe ich die gesuchte Nummer in meinen Kontakten gefunden. Während ich in den klaren Sternenhimmel hinaufblicke, warte ich ab, dass jemand abhebt. Ein Knacken in der Leitung lenkt meine ganze Aufmerksamkeit auf meinen Gesprächspartner.

"Was gibt es noch so spät in der Nacht?", ertönt eine verschlafene Stimme. Ich atme tief ein. "Ich vermisse die Zeiten, in denen wir zusammen lachen konnten", stoße ich die angesammelte Luft wieder aus, "ich vermisse dich, Phil."

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Krass. Das ist jetzt schon Kapitel 50!
Habe heute zu viel Kaffee getrunken und muss jetzt gucken, wie ich die Nacht rumkriege.
Habe mal "etwas Neues" versucht... Hoffe das Kapitel ist trotzdem gelungen.









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