Ich denke jeden Tag an dich

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Luca... Ich war noch nie gut im Schreiben. Ich war noch nie gut darin nieder zu schreiben, was ich wirklich fühle. Ich denke, deshalb sind auch alle Seiten der Tagebücher, die ich von irgendwem irgendwann zum Geburtstag geschenkt bekommen habe, noch unbeschrieben.

Lieber Luca,

ich weiß nicht, womit ich beginnen soll. Aber was ich weiß: Ich habe Mist gebaut.

Immer und immer wieder lese ich mir diesen Satz durch. Bereits eine halbe Stunde starre ich auf diesen Bildschirm vor mir. Aber in meinem Kopf will sich kein vernünftiger Satz bilden. Wenn ich meine Augen für eine Sekunde schließe - nur eine Sekunde, um durchzuatmen - dann sehe ich dich. Dich, wie du über mir liegst und mich mit deinen grauen Augen ansiehst. Du hast mich angesehen, als wären wir uns gerade zum ersten Mal begegnet. Und in gewisser Weise sind wir das auch. Habe ich recht?

Luca... Du hast mich gefragt, ob ich das auch wirklich will. Ich war mir sicher, dass ich es will. Mit dir. Mit keinem anderen. Alle Fasern in meinem Körper schrien nach dir. Nach deinen weichen Lippen. Nach deinen Küssen. Nach deinen Fingern, die langsam meinen Arm rauf und runter gestrichen sind. Nach deiner Zärtlichkeit.

Luca... Es war perfekt. Perfekt für mich.

Wenn ich morgens aufwache, wünsche ich mir, du würdest neben mir liegen. Wenn ich mich in mein Bett lege, ist es als würde ich dein Haarshampoo riechen. Wenn ich mir die Zähne putze, muss ich an unsere Unterhaltung denken. Wenn mein Blick auf deine Deodose in meinem Badezimmer fällt, spiele ich mit dem Gedanken, meine Anziehsachen solange damit einzusprühen bis die Dose leer ist. Wenn mir mein Dad zum Frühstück eine Schüsseln voller Erdbeeren hinstellt, schwirrt mir dein angeekelter Gesichtsausdruck im Kopf herum.

Ich laufe durch die Schulgänge. Zähle die Spinde vom Eingang aus bis zu deinem. 303. Ich zähle den Abstand zwischen deinem und meinem Spind. 64. Ich stehe vor unserem Klassenzimmer und beobachte die Menschen. Versuche dich in der Masse ausfindig zu machen. Ich stelle mir vor, wie du lässig mit einer Schulter gegen den einzigen grünen Spind auf dem Gang lehnst und über einen Witz von Jonas lachst. Wie dein Blick langsam durch die Menge schweift und letztendlich an mir hängen bleibt. Wie du mich sehnsuchtsvoll ansiehst. Solange bis Jonas anfängt dich aufzuziehen.

Ich sitze im Unterricht und mein Blick fällt auf die leeren Stühle neben mir. Eine Woche nachdem du weggezogen bist, ist auch Zoey gegangen. Aber sie kommt bald wieder. Sie kommt wieder, sobald sie ihre sieben Wochen bei ihrer italienischen Gastfamilie abgesessen hat. Und du? Du wirst nicht wieder kommen.

Meine Freunde kommen fast täglich vorbei und versuchen mich aufzuheitern. Tameo hat mir seine PlayStation geliehen, damit ich ein paar Zombies abschießen kann. Connie zwingt mich an die frische Luft. "Damit du nicht wie die Blumen in deinem Zimmer verwelkst", sagt sie immer. Blake sitzt einfach neben mir und sagt nichts. Sobald sich wieder Tränen aus meinen Augen lösen, wischt er sie weg oder läuft zum nächsten Supermarkt, um neue Taschentücher zu kaufen. Phil hat uns zwei bei einem Kochkurs angemeldet. Er meint, ich versalze in letzter Zeit viel zu oft das Essen. Christine und Alexandra erzählen mir die komischsten Geschichten aus ihrer Arbeitswelt. Es hilft. Mit den Zweien kann ich oft lachen.

Mein Dad verzweifelt halb. Und ich - ich tue es auch. Irgendwie.

Luca... Ich weiß, dass du auch vorbei gekommen bist. Ich weiß, dass du wieder nach Hause musstest, nachdem du zwei Stunden vor meiner Tür gesessen hast. Denn der Umzugswagen hat nicht länger gewartet. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, tagelang mehrfach am Tag bei mir anzurufen und das Handy so lange klingeln zu lassen bis die Mailbox dran geht.

Du fragst dich sicherlich, was mein Problem ist. Ich habe mich ebenfalls immer wieder gefragt, was eigentlich mein Problem ist. Und das schlimmste ist: Ich weiß es nicht genau.

Nach unserer Nacht... Unsere Nacht, die bereits über drei Wochen zurück liegt... Da bin ich aufgewacht und habe erst eine Stunde später realisiert, was überhaupt passiert ist.

Ich lag in deinem Bett. Das Zimmer war noch vollkommen dunkel. Mehr als ein T-Shirt von dir und meiner Unterhose hatte ich nicht an. Deine Bettdecke lag wie eine Barriere zwischen uns. Somit bot sich mir die perfekte Sicht auf dich. Nur in Boxershorts bekleidet schliefst du tief und fest. Dein Gesicht war entspannt. Auf deinen Lippen hatte sich ein Lächeln gebildet.

Ich strengte mich an wieder einzuschlafen. Doch ich konnte mich nur von einer Seite auf die andere rollen. Erinnerungsfetzen aus letzter Nacht sprangen in meinem Kopf umher und brachten mein Herz dazu, immer schneller zu schlagen.

Luca...  Ich stelle mir immer wieder vor, was gewesen wäre, wenn ich nicht vor dir aufgewacht wäre. Du wärest vor mir aufgestanden und hättest dich aus dem Zimmer geschlichen, damit ich meinen Schlaf bekomme. Irgendwann wäre ich auch aufgewacht. Ich wäre von Gebäckgeruch geweckt wurden.  Unten in der Küche hätte ich dich dann am Herd entdeckt. Eine blaue Sweatshirtjacke um deinen Oberkörper tragend hättest du einige Waffeln zubereitet. Du hättest mich angesehen, als wäre ich deine kleine Prinzessin. Du hättest mich gefragt, ob alles okay ist. Ob es mir gefallen hat. Und ich wäre rot angelaufen und hätte mir eine Waffel in den Mund gestopft, damit ich unfähig gewesen wäre, um zu antworten.

Verstehe mich nicht falsch. Es hat mir gefallen.

Damals bin ich aus dem Bett aufgestanden, habe meine Anziehsachen zusammen gesucht und bin im Bad verschwunden. Ich stand einige Zeit vor dem Spiegel. Erst im Dunklen. Dann im Hellen. Ein Mädchen hat mir entgegen geblickt. Es hat sich in die Wangen gekniffen. Ihre Mundwinkel nach oben und unten geschoben. Das Mädchen hat mit ihren Fingern ihre Haare durchgekämmt. Ihre Augen schauten einfach nur stumpf gerade aus. Ich habe länger überlegt. Doch das Mädchen im Spiegel war ich.

Luca... Bitte, spring nicht auf und versuche den nächstbesten Psychiater zu erreichen. Ich bin nicht verrückt. Ich will es dir erklären:

Alle sagen immer, nach dem ersten Mal fühlt man sich besser. Man fühlt sich bestätigt. Man fühlt sich erwachsen. Aber ich habe mich einfach anders gefühlt.

Um Gottes Willen, ich habe mich weder dreckig noch benutzt gefühlt.

Doch ich habe mich nicht wie ich selbst gefühlt. Ist es möglich, dass damals in unserer Nacht eine andere Joyce mit dir zusammen war? Vielleicht die Joyce, die dann immer auftaucht, wenn du in meiner Nähe bist. Die Joyce, die von dir ihren ersten richtigen Kuss bekommen hat. Die Joyce, die in deiner Gegenwart selbstbewusst ist. Die Joyce, die vorschnellt handelt, wenn sie in deine grauen Augen blickt. Die Joyce, die ihr erstes Mal mit dir hatte.

Es klingt böser als es soll.

Luca... Ich gebe dir nicht die Schuld, falls du das gerade denkst. Ich gebe niemanden die Schuld für das was zwischen uns Zweien passiert ist.

Aber ich denke, ich - die Streberin, die graue Maus, die Unsichtbare - war noch nicht bereit.

Ich kann nicht einmal die drei Buchstaben niederschreiben.

Wie hätte es also mit uns weiter gehen sollen? Hätte ich dir nicht mehr in die Augen schauen sollen? Hätte ich anfangen sollen zu stottern, wenn du mich etwas gefragt hättest? Hätte ich immer rot anlaufen sollen, wenn du um die Ecke gebogen wärest?

Es mag komisch klingen, aber nachdem wir uns so nahe waren, brauchte ich Abstand.

Wir haben einen großen Schritt gewagt. Ich habe einen großen Schritt gewagt.

Luca... Mir ist durchaus bewusst, dass ich diejenige war, die bei dir zuhause aufgekreuzt ist und um eine Nacht gebeten hat. Aber sagte ich nicht auch, dass diese Nacht dazu dienen soll, sich von dir verabschieden zu können?

Ironischerweise hätte es nicht besser laufen können. Oder?

Ich denke jeden Tag an dich.

Ich vermisse dich.

Deine Joyce

Liebe Joyce,

es ist okay, ich vermisse dich auch.

Luca

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Schreibt das Mädchen, das immer noch ungeküsst ist xD

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