Kapitel 10: Geteiltes Leid - halbes Leid

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Roxas ist still, sagt nichts. Lautlos rollt die salzige Tränenflüssigkeit von dem schönen Gesicht. Obwohl ich seine Hand drücke und an ihn gelehnt bin, hört er nicht auf leise zu weinen. Es schmerzt mir im eigenen Herzen, fast so, als hätte ich selbst die Trennung miterlebt. Ich drücke mich enger gegen ihn, um mehr Trost zu spenden und lege meinen Kopf auf Roxys Schulter. Er wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, legt das Foto auf sein Kissen und dreht sich halb zu mir. Seine Hände fahren in mein Haar und anschließend über meine Schulter. Roxas umarmt mich feste, legt sein Gesicht an meine Schulter und zittert vor Trauer. Die Situation ist so ungewohnt. Noch nie hat jemand in meinen Armen geweint ... Noch nie lag das Glück einer Person in meiner Hand. Ich bin einfach still - falsche Worte bringen nicht viel. Da sein hingegen schon, also lege ich den Arm um Roxas Rücken und eine Hand auf sein Haar. Mein Gesicht kuschele ich an seine feuchte Wange und fahre ihm sanft über den Rücken.
Alles wird gut, Roxy. Jeder Schmerz geht irgenwann vorbei.

Auch wenn Roxas traurig ist und mir das Herz mit schmerzt - irgendwie ist es trotzdem ein schönes Gefühl.
Dass er sich gerade bei mir ausweint, mir vertraut und sich an mich kuschelt. Als er jedoch plötzlich stärker beginnt zu weinen, gebe ich leise, beruhigende Geräusche von mir. Auch aus meinen Augen treten vereinzelnt die Tränen und häufen sich langsam. Roxas scheint es zu bemerken, denn er löst sich ein kleines Stück von mir und sieht mir mit den roten Augen in das Gesicht, ohne mich los zu lassen. "Du weinst ja", sagt seine brüchige Stimme und ich nicke sanft. "Warum?", fragt er leise und streicht sich erneut mit dem Ärmel seines blauen Pullovers die Tränen weg. Ich antworte ihm nicht, sondern sehe ihn einfach weiter mit Tränen in den Augen an. Ich muss sie nicht verstecken, es ist mir bei ihm nicht mal annährend unangenehm mit zu weinen. Es geht mir einfach so nahe, dass er traurig ist, auch wenn wir uns nicht solange kennen.
Als ich ihn weinerlich, aber dennoch mit entschlossenen Blick ansehe, sagt Roxy gebrochen, aber lächelnd: "Geteiltes Leid ist halbes Leid, mh?"
Er tätschelt mir den Kopf und drückt wieder sein Gesicht in meinen Hals.
"Ich glaube, ich habe einen neuen, guten Freund in dir gefunden..."
Das hast du.

Nichts sagend drücke ich Roxas auf sein Kissen und gebe das Foto der beiden auf den Nachtschrank. Ich lege mich neben ihn und kuschele mich tröstend an ihn an. Seine Tränen werden weniger und er schließt die goldbraunen Augen. Er zieht mich näher an sich und seine Atmung wird immer gleichmäßiger. Roxy ist eingeschlafen ... Auch ich bin müde vom Weinen und mache einfach die Augen zum einschlafen zu. Hier wird mir niemand etwas antun, hier kann ich sorglos zur Ruhe gehen.

Der Schlaf kommt mir nicht besonders lang vor, er war auch nicht wirklich erholsam. Meine Arme sind leer und ich öffne geschockt die Augen - habe ich das mit Roxas jetzt geträumt oder ist es Wirklichkeit gewesen?
Tatsächlich ... Er sitzt am Bett und faltet gerade den Auslöser für seine Trauer. Roxy zieht einen kleinen Mülleimer vom Nachtschrank näher zu sich und steckt das Foto hinein. Kurz schaut er den kleinen Plastikeimer an. "... Du gehörst eigentlich dazu", höre ich Roxas Stimme flüstern. "Zu mir ... zu meinen Leben. Wir hatten eine gute Zeit, auch wenn sie jetzt vorbei ist..." Er zieht das Foto wieder aus dem Eimer und faltet es doch wieder auseinander. Ohne zu bemerken, dass ich wach bin, pinnt er es wieder an seine Wand. "Ich will mich immer an die schönen Sachen erinnern... Danke, dass du sie mir gegeben hast, Ashley." Ich kann nicht einschätzen, ob seine Stimme traurig oder dankbar ist. Vielleicht ist sie auch beides. Aber warte .. Ashley? Ist das nicht ein Mädchenname? Na ja, kann mir auch egal sein wie sein Ex heißt. Der hat Roxy jetzt sowieso schon ersetzt...

Der junge Mann lehnt sich mit dem Gesicht zu einen anderen Bild mit Ashley und drückt diesen einen sanften Kuss auf. Er ist wirklich traurig ... Dieser Mistkerl hätte jemanden wie ihn nicht verdient. Gut, dass sie auseinander sind. Spast und Prinz passen einfach nicht. Mein Blick fällt auf einen digitalen Wecker.
19:47 Uhr.
Ich setze mich auf und werde sofort angesehen. "Hey, Reza ... Kleiner", flüstert der Junge zu mir und lächelt.
Gute Erinnerungen ... Wäre ich er, hätte ich all die Fotos schon dem Nachbarshund zum Fraß vorgeworfen. Dieser Ashley regt mich irgendwe auf. Beim bloßen Gedanken an ihn bekomme ich Aggressionen, doch Roxas sanfte Geste - mir das dunkelbraune Haar hinter das Ohr zu streichen - lässt die Wut wieder verfliegen. "Sorry wegen heute..."
Ich winke ab, ist doch nicht schlimm. Jeder weint einmal, das ist ganz menschlich. Und du, Roxy, du bist eben ein Mensch. Er lächelt und sieht auf die Uhr. "Es ist spät ... Willst du nach Hause?"
Ich schüttle den Kopf. Muss nicht unbedingt sein. "Na ja ... Magst du dann vielleicht hier schlafen?"

Mein Herz macht sofort einen Sprung, klopft schneller bei dem Gedanken. Darf ich dann wieder hier im Bett bei ihm schlafen und kuscheln? Das fühlt sich so warm und gut an ... Obwohl wir beide geweint haben - es war wunderschön. Ich nicke eifrig und krame mein noch warmes Handy aus der Hosentasche.
"Bin über Nacht bei einem Freund", schreibe ich meinem kleinen Bruder und halte es Roxas vor die Nase.
"Ne Freundin?", er lächelt breiter. "Ich wusste gar nicht, dass du eine hast."
Verwundert blicke ich selbst auf das Display. Caillou hat sofort geantwortet. "Oder bei deiner Freundin!? xD" Nein, mann!
"Ich .. I-ich hab keine", murmle ich bescheiden. Hatte ich noch nie.

"Mudder hätte dir kein Handy kaufen müssen, nur damit du son Quatsch schreiben kannst", tippe ich in das Mobiltelefon und stecke es wieder weg.
"Magst du Klavier?", kommt dann die eher unerwartete Frage. Ich sehe zu Roxas und nicke. Ja, Klavier ist doch ganz schön. Der junge Mann steht auf und deutet mir an ihm zu folgen. "Wir haben ein Piano im Wohnzimmer." Roxas spricht ungewöhnlich leise. Kann er spielen? Ich kann mir gut vorstellen, dass er sogar richtig gut ist.

Roxy führt mich durch die aufgeräumte Wohnung. Wo ist denn sein Vater? Oh Gott. Ich hoffe dem begegne ich nie, sonst denkt er bestimmt, dass ich eine geistige Behinderung hätte ... Ein großes Piano steht an der Wand des eher kleinen Wohnzimmers. Roxas setzt sich auf den kleinen Samthocker und drückt sinnlos irgendwelche Tasten. Ich kann nur ein einziges Lied und das ist der Flohwalzer. Also nicht besonders kreativ, wobei ich mir noch "Alle meine Entchen" zutrauen würde, hehe.
Ich knie mich neben das Instrument und schaue neugierig auf die reinen Tasten, weiß wie blendender Schnee. "Hast du ein Wunschlied, Reza?" Ich schüttle den Kopf. Mach, was du am besten findest.
Roxy nickt und holt kurz Luft, bevor er beginnt mit geschlossenen Augen ein Lied zu spielen.

Mir kommt es vor, als würde ich neben dem Meister der Pianos persönlich sitzen! Er spielt ein verdammt gutes Lied ... Wie heißt es noch gleich? Comptine d'un autre été?
Das ist richtig populär und besonders eine Mittelstelle ist schwierig ... Ich kann nicht einen Verspieler hören und sehe in Roxas Gesicht. Er hat verdammt noch einmal die Augen geschlossen und sieht nicht mal hin! Ich könnte das nicht ... Aber er scheint sein Instrument zu kennen.

Ich gehe von kniend in das Sitzen über, weil es einfach bequemer ist und halte mich am Rand des Pianis fest. Ich schließe meine Augen und plötzlich weine ich wieder Tränen, weil die Melodie weiter reicht als nur in meinen Kopf. Das Gefühl von Roxas Händen, so liebevoll, ausgeführt auf dem Instrument, berühren mein Herz. Doch bevor ich ganz in Tränen ausbrechen kann, wird es still und das Lied ist beendet. "Wie fandest dus?"
Glücklich sehe ich ihn an. "Wunderschön!"

"Sorry, dass es heute nichts mit den Sprachübungen geworden ist."
Kein Ding. Abwinkend tippe ich auf ein weiteres, witziges Video am Tablet und sehe es mir gemeinsam mit Roxy an. Die Zeit vergeht so unglaublich schnell, dass es mich schon beinahe traurig stimmt. "Morgen ist wieder Schule", sagt der Junge und ich nicke. Stimmt, doofe Schule. Das einzig gute an der ist, dass ich mit Roxas und Jay Karten spielen kann.
"Lass uns haian..."

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