Kapitel 12

205 18 4
                                    

"Es gibt keine Überlebenden."
Diese Worte hallten in Sirius' Gedanken wider. Er war nicht mehr zu halten.
Wortlos und ohne Zögern rannte er los, umrundete das Haus und stürmte zur Eingangstür hinein, Lily und James dicht auf den Fersen.
Keiner von ihnen beachtete das Chaos, das im Inneren des einst so gemütlichen und freundlichen Heims herrschte.
Stattdessen eilten sie in den Raum, aus dem die meisten Stimmen zu vernehmen waren - das Wohnzimmer.
Als Sirius die Türschwelle übertrat und seinen Blick gehetzt durch das Zimmer schweifen ließ, verließ ein erstickter Laut seine Kehle.
Marlene, seine Marlene, lag leblos am Boden.
Mit Tränen in den Augen wandte Sirius seinen Blick ab. Er würde gleich trauern können, doch zuvor musste er noch eines wissen.
"Wer?", stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als Fabian Prewett auf ihn zulief.
Dieser verstand sofort und antwortete:
"Voldemort selbst und Travers. Sie hatte keine Chance. Wir kamen erst, als Voldemort sie gerade tötete. Sie hat am längsten durchgehalten. Es tut mir leid, Sirius."
Der Schwarzhaarige nickte nur dankend und wandte sich um. Unnatürlich laut rauschte das Blut in seinen Ohren. Das einzige Geräusch, welches er hörte.
Langsam ließ er sich neben Marlene auf den Boden sinken. Seine Beine waren zu schwach, um ihn länger zu halten.
Sanft nahm er eine ihrer Hände in seine und brach schluchzend über ihrem toten Körper zusammen.
Er schrie, er fluchte, er weinte.
Er weinte, bis er keine Tränen mehr hatte.
So vieles, was er ihr noch hatte sagen wollen.
So vieles, was sie noch gemeinsam hatten erleben wollen.
Niemand hätte es so sehr verdient gehabt, ein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu leben, wie Marlene.
Und nun lag sie leblos dort.
Eine leere Hülle ihrer Selbst an dem Ort, an dem sie sich immer am sichersten gefühlt hatte.
Sirius hatte sie heiraten wollen, hatte mit ihr alt werden sollen.
Sie war schwanger gewesen, verdammt!
Alles, was ihm blieb, waren die Erinnerungen.
Verzweifelt klammerte sich Sirius an ihre kalte Hand.
Es war die Hand, die ihm mit ihren zarten Fingern so oft über die Wange gestreichelt hatte.
Die Hand, die so gerne seine langen Haare verwuschelt hatte und die einzige war, die dies regelmäßig durfte.
Die Hand, die sich so oft schützend über den Bauch, über das ungeborene Kind, gelegt hatte.
Die Hand, die die seine gehalten hatte, wenn sie es brauchten.
Die Hand, deren Finger so oft eine der blonden Haarstränen gedreht und gezwirbelt hatten.
Die Hand, die ihm so süße Worte per Brief geschrieben hatte.
Die Hand, die jetzt bloß kalt, blass und leblos war.
Die nie den Ehering tragen würde, den Sirius ihr hatte anstecken wollen.
Seine Tränen benetzten Marlenes Gesicht, als Sirius mit seiner freien Hand die weichen Konturen nachfuhr.
Vorsichtig strich er ihr ein paar Haare aus der Stirn hinter das Ohr, fuhr über ihre Wangen, über ihren Mund.
Noch immer konnte er ihr glockenhelles, perlendes Lachen hören, das diesen so oft verlassen hatte.
Nie wieder.
Er kam bei ihren Augen an.
Die ozeanblauen Augen, in denen er sich jedes Mal aufs Neue verloren hatte, durch die er bis zu ihrer Seele blicken konnte, die immer funkelten und glitzerten und aus denen die pure Lebensfreude sprühte, sahen ihm nun stumpf und leer entgegen.
Langsam und mit einem schmerzerfüllten Laut schloss er diese wunderschönen Augen.
Für immer.

Lange saß Sirius neben der Frau seines Lebens, der Mutter seines ungeborenen Kindes. Er klammerte sich mit einer Hand an ihre und hatte die andere auf ihren Bauch gelegt.
"Es kann nicht sein. Das darf nicht wahr sein. Du hast mir versprochen, niemals zu gehen! Ich liebe dich doch! Und unser Kind... Marls, ... Marlene..."
Immer wieder wiederholte er diese Worte und hoffte auf ein Wunder.
Doch es geschah nichts. Niemand kam und erweckte Marlene zum Leben.
Niemand kam und erweckte Sirius aus diesem schrecklichen Albtraum.
Niemand.
Irgendwann versuchte jemand, ihn von der Leiche wegzuziehen, doch er hielt sich krampfhaft fest.
"Sirius, lass sie los. Dadurch kommt sie nicht zurück. Sirius, ich bitte dich", hörte er James' Stimme schließlich wie durch Watte und tatsächlich lockerte sich sein Griff.
Widerstandslos ließ er sich nun auf die Füße ziehen und ging, von seinem besten Freund gestützt, zu einem der Sofas.
Jeder Schritt schmerzte.
Unscharf, ja fast wie durch einen Schleier, nahm er wahr, dass er neben Lily platziert wurde, die sich ebenfalls vor Tränen und Schluchzern kaum halten konnte.
"James, sie war schwanger. Wir hätten ein Kind gehabt! Ich wollte ihr nächste Woche einen Heiratsantrag machen! Und jetzt?"
Nur leise und undeutlich kamen diese Worte über Sirius' Lippen, doch James hörte sie dennoch. Er schluckte. Dass die beiden ein Kind erwartet hatten, war ihm nicht bekannt gewesen und auch die Sache mit dem Antrag hatte Sirius nie erzählt.
Ihm war bewusst, wie verzweifelt sein bester Freund war und er wollte um nichts in der Welt mit ihm tauschen.
"Sirius, ich kann dir nicht sagen, dass ich dich verstehe, denn Merlin sei Dank war ich nie in einer solchen Situation. Aber auch ich habe schon geliebte Menschen verloren. Meine Eltern. Das Leben geht weiter, weißt du? Manchmal hinkt es und an den Tagen unmittelbar nach so einem Ereignis braucht es eine Pause, bevor es wieder aufstehen kann. Aber es steht wieder auf. Marlene hätte nicht gewollt, dass du verzweifelst, Sirius."
Der Black nickte, doch sein Körper wurde ununterbrochen von Schluchzern geschüttelt.
"Es tut so weh. Sie hat das nicht verdient. Keiner hat das, aber sie am wenigsten."
Wortlos nahm James seinen unbiologischen Bruder in die Arme.
Er hielt ihn fest, bis Sirius' Atem ruhiger wurde und er in einen wohl wenig erholsamen, jedoch trotzdem wichtigen, Schlaf fiel.
Dann kümmerte sich der Potter um seine Frau, die ebenfalls am Boden zerstört war ob des Todes ihrer besten Freundin.
Bisher hatten sich die Prewett-Brüder, mit denen die Potters sehr eng befreundet waren, rührend um die rothaarige Hexe gekümmert.

Einige Zeit später, nachdem die Leichen der McKinnons abgedeckt und an einen sicheren Ort gebracht worden waren, an dem sie bis zur Beerdigung bleiben würden, apparierte James seine Frau und danach seinen, nun wieder wachen, besten Freund nach Godric's Hollow zurück. Beide wären nicht in der Lage gewesen, dies alleine zu tun.
Dorcas und Remus hatten die Schreckensnachricht zwischenzeitlich ebenfalls erhalten und empfingen die drei wortlos mit Umarmungen.
"Kann ich hier schlafen? Bei euch?", bat Sirius heiser und Lily nickte sofort.
"Danke", brachte der Black hervor und ging langsam zur Treppe.
Lily wollte ihm schon folgen, doch James drückte sie in die weichen Polster der Couch und sagte: "Ich kümmere mich um das Bett. Und um Harry."
Natürlich ging auch ihm Marlenes Tod sehr nahe, doch er wusste, dass er im Moment gebraucht wurde.
Als funktionierender Ehemann, Vater und bester Freund. Trauern würde er, wenn die Zeit dafür war.
Ähnlich erging es Remus und Dorcas, die zwar beide tief erschüttert waren, sich jedoch erstmal um Lily kümmern wollten.
James machte Sirius das Gästezimmer zurecht und platzierte das Bettchen von Harry ebenfalls darin.
Ein kleines, schwaches Lächeln schlich sich auf das Gesicht des Hundeanimagus, als er seinen Patensohn beim Betreten des Zimmers erblickte. Er spendete ihm Trost.
"Wenigstens bist du sicher, mein Kleiner. Tante Marlene hat dich sehr geliebt, weißt du? Das darfst du nie vergessen. Und ich verspreche dir, dass ich bei dir bleibe. Ich werde dich niemals verlassen."
Sirius wusste nicht, ob er dieses Versprechen würde halten können. Er wusste es genauso wenig wie Marlene es gewusst hatte, als sie ihm dieses Versprechen gab.
Und doch wollte und würde er sein Bestes versuchen, es niemals zu brechen.
Genau wie Marlene.

Während seiner Erzählung war die Wunde in Sirius' Herzen wieder aufgerissen. Er fühlte den Schmerz, der ihn beinahe überwältigte, nun fast so intensiv wie damals, in jener Nacht.
Sie lag einerseits so weit in der Vergangenheit und doch war es ihm als wäre es gestern gewesen. Und hier erlebte er Marlene Tag für Tag als fröhliche, unbeschwerte Schülerin.
Verzweiflung machte sich erneut in ihm breit, als er an sein ungeborenes Kind und die Frau, mit der er hatte alt werden wollen, dachte. Er hatte sie nicht beschützen können, obwohl er es sich immer geschworen hatte.
Tränen tropften aus seinen Augen auf seine Hände. Seine Hanknöchel waren schon ganz weiß, weil sich seine Finger so sehr verkrampften.
"Sirius, es ist nicht deine Schuld", sagte Harry sanft und Sirius nickte leicht.
"Ich weiß. Aber es fühlt sich verdammt doll danach an."
"Aber wir können Marlene doch retten, oder? Wir schütze sie einfach mit dem Tutela ab Occisio. Ich weiß zwar noch nicht, wie wir sie überreden können, einen von uns dreien als Partner für diesen Zauber zu wählen, aber da wird uns wohl noch etwas einfallen. Weißt du, ob sie geschützt wurde, Sirius?", fragte Hermine.
"Nein, ich weiß von nichts. Zu uns sagte sie immer, sie würde nicht daran glauben und möchte nicht mit einem noch nicht wissenschaftlich erprobten Zauber belegt werden."
Fieberhaft überlegte Hermine, wie sie die Sache unauffällig gestalten könnten.
Schließlich hatte sie eine Idee.
"Passt auf. Sirius, du rufst Marlene nach einer deiner nächsten Verteidigungs-Stunden zurück, bevor sie gehen kann. Achte aber darauf, dass diese Aktion möglichst unbemerkt bleibt. Wenn ihr dann alleine seid, kommen Harry und ich dazu. Wir werden ihr erzählen, dass wir aus der Zukunft kommen und auch, dass sie sterben wird. Sie wird hoffentlich einsehen, dass nur einer von uns dreien sie schützen kann, da du es ja sonst wüsstest. Dann soll sie entscheiden, wessen Patronus sie wählt. Wenn wir den Zauber durchgeführt haben, verändern wir ihr Gedächtnis so, dass sie denkt, dieser Zauber wäre sinnlos. Das müsste funktionieren, oder?"
"Hermine, du bist brillant! So machen wir es. Und dann werde ich sie heiraten, wenn wir zurück in unserer Zeit sind."
Ein Hoffnungsschimmer lag in Sirius' feuchten Augen, als er die junge Hexe umarmte und sie dankbar auf die Wange küsste.
Auch Harry strahlte und bedankte sich überschwänglich bei seiner besten Freundin.
Wenn alles klappte, würde Harry seine Patentante also in einiger Zeit kennenlernen können und darauf freute er sich sehr.

𝑑ᵢₑ ꜱ𝒑Լᵢ𝑡𝑡ₑᵣ 𝑑ₑᵣ 𝑧ₑᵢ𝑡Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt