37. Ihr kennt ihn doch gar nicht

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Ich sitze in Englisch. Alleine, wie immer. Ava müsste jetzt Geschichte haben. Ich wünschte sie wäre jetzt bei mir, das würde das Ganze so viel einfacher machen. Es würde die Blicke erträglicher machen, das Getuschel und das Gelächter ausblenden.

Aber sie ist nicht da und ich bin dem allen alleine ausgesetzt.

Mir ist vorher nie aufgefallen, dass ich bis auf Reece und Ava niemanden an dieser Schule wirklich kenne. Freunde habe ich hier schon gar nicht. Ich dachte immer, dass die High School aufregend und cool ist, aber sie ist das genaue Gegenteil. Sie ist nicht viel anders als die Schulen in Deutschland - nur, dass mir die Schulen dort lieber sind als hier in Amerika. Die Schüler sind fies - sie sind von Anfang an in die verschiedensten Gruppen geteilt und vermischen sich auch nie.

Der Tag gehört ab jetzt zu einem der schlimmsten Tage in meinem Leben. Ich muss die ganze Zeit mit anhören wie sie schlecht über Reece reden und das auch noch in meiner Gegenwart - ich möchte gar nicht wissen, was sie alles gesagt haben, als ich nicht da war. Am liebsten würde ich etwas sagen, aber was? Die Wahrheit? Das kann ich nicht. Ich darf es nicht. Reece möchte nicht, dass irgendjemand von seiner Krankheit weiß, also muss ich den Mund halten. Wenigstens Reece zuliebe.

Der Unterricht geht schleppend, doch ich höre die meiste Zeit sowieso nicht mehr ganz zu. Natürlich sind meine Gedanken die ganze Zeit bei Reece. Mrs. Flinch sagt, dass sie das Klassenzimmer kurz verlassen wird um die Arbeitsblätter zu kopieren, weil sie keine Zeit hatte in der Pause. Dabei gibt sie uns Aufgaben, die wir während ihrer Abwesenheit bearbeiten sollen. Zum ersten mal wünschte ich, dass sie bleiben würde. Ich möchte nicht, dass sie geht und mich alleine mit den anderen lässt.

Doch sobald sie aus dem Raum ist, werden die Stimmen lauter, die Gespräche intensiver. Ich kneife die Augen zusammen, senke den Kopf dabei und tue so als würde ich ins Buch vor mir schauen, dabei versuche ich einfach nur ihre Stimmen auszublenden.

Sie reden wieder. Reden schlecht über ihn. Warum tun sie das? Sie kennen ihn doch gar nicht. Warum sind manche Menschen so grausam und voreingenommen? Warum gibt es solche Leute, die sich das Maul um andere reißen, die sie nicht einmal kennen und dann auch noch so viel Unwahrheit verbreiten?

Ich sitze bloß da und versuche nicht hin zu hören, öffne wieder die Augen und versuche mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Aber die Stimmen bohren sich einen Weg durch meine Ohren in meinen Kopf und hängen sich dort fest. Ich versuche sie abzuschütteln, wegzuschlagen wie eine lästige Fliege, aber sie wollen nicht gehen.

Tod.

Verdient.

Hoffentlich kommt er nie wieder.

»Seid still«, flüstere ich und schaue auf - etwas bricht in mir zusammen. Ich hebe die Stimme. »Seid doch endlich still!«

Ich springe auf, mein Stuhl kippt nach hinten um. Der laute Aufprall mit dem Boden hallt durch den nun so stillen Raum. Alle Blicke liegen auf mir, während ich heftig atme und jedem einzelnen in die Augen schaue. Mein Blick wandert von rechts nach links und wieder zurück. Sie drehen die Köpfe umher, starren sich gegenseitig an - entsetzt, überrumpelt. Ich höre sie flüstern Was? Was hat die Komische denn jetzt?

Es tut mir leid, Reece, ich versuche mich wirklich zurück zu halten.

»Ihr denkt also ihr kennt Reece? Den wahren Reece?«, zische ich wütend. »Da liegt ihr falsch. Verdammt, ihr liegt so falsch! Jeder einzelne von euch, jedes beschissene Gerücht ist eine verdammte Lüge. Versteht ihr das?«

Ich würde ihnen so gerne die Wahrheit sagen, aber ich muss Reeces Entscheidung akzeptieren, solange er seine Meinung nicht ändert. Wenn er es ihnen nicht sagen möchte, muss ich mich zurückhalten und den Mund halten.

A Story of Broken HeartsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt