1. Der Abschied

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Ich schaue zu meiner Rechten, dann zu meiner Linken und zwinge mich zu einem Lächeln, obwohl mir wohl eher zum Heulen zumute ist.

Jule drückt sanft meine Hand, während Larissa mir über den Handrücken streicht. Abschiede fallen einem immer schwer, doch Abschiede von geliebten Menschen sind wohl die größte Hürde.

Als ich mir damals vorgestellt habe, einmal in meinem Leben hier zu stehen, hätte ich nicht gedacht, dass es mir so schwer fallen wird, von den Menschen, die ich liebe, Abschied zu nehmen. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Abschied so emotional werden würde. Vor allem aber hätte ich nie - wirklich nie - gedacht, dass ich meine Entscheidung einmal infrage stellen würde.

»Ich fasse es immer noch nicht«, murmele ich vor mich hin und starre auf meine rot lackierten Fingernägel. Ich bringe es einfach nicht übers Herz, ihnen ins Gesicht zu sehen. Auch wenn es meine Entscheidung gewesen ist, diesen Schritt zu wagen und ich es heute noch, kurz vor dem Flug, nicht bereue, macht es mich traurig die Menschen, die ich liebe hier zurückzulassen.
Es ist nur ein Jahr, rede ich mir ein. Was ist schon ein Jahr? Ein Jahr ist nichts im Vergleich zu den vielen Jahren, die mir noch bevorstehen. Und dieses eine Jahr wird es wert sein, denn es wird eine wunderschöne Zeit, das weiß ich jetzt schon. Was ist, wenn ich nicht fliege und später zurückschaue und denke: Was wäre wenn ich damals tatsächlich geflogen wäre? Wenn ich denke: Hätte ich doch auf mein Gefühl gehört und es einfach gewagt. Denn ein hätte und ein wäre kann mir später keiner mehr zurückgeben. Es ist und bleibt immer ein Wunschgedanke.

Ich stehe hier mit einem lachenden und einem weinenden Auge am Flughafen.

Plötzlich spüre ich ein Gewicht auf meiner Schulter und schaue auf. Jule hat den Arm um mich gelegt und lächelt mich an. Ihr Lächeln hat mich schon immer beruhigt. Ich weiß nicht genau woran es liegt. Vielleicht daran, wie sich leichte Grübchen in ihren Wangen bilden, vielleicht auch daran, wie ihre Augen anfangen zu leuchten, als würden sie mir ihre Euphorie übertragen wollen. Doch heute schafft nicht einmal sie es, mich auf andere Gedanken zu bringen. Weder ihre Grübchen, noch das Leuchten in ihren warmen, braunen Augen.

»In einem Jahr bist du wieder da.« Sie stupst mich in die Seite und zwinkert mir zu.

Ein Jahr hört sich unbedeutend an, aber was ist mit den 365 Tagen, die in diesem einen Jahr stecken? Wenn man es so betrachtet und von den einzelnen Tagen ausgeht, kommt mir der ganze Austausch unglaublich lange vor. 365 Tage in denen alles passieren kann, in denen ich mich komplett verändern könnte. 365 Tage in denen sich meine Familie und meine Freunde in Deutschland verändern könnten. 365 Tage in denen wir uns vielleicht aber auch alle verändern.

Doch es sind auch 365 Tage, in denen ich Erfahrungen sammeln und neue Menschen kennenlerne werde. 365 Tage, die ich vermutlich nie im Leben vergessen werde, egal wie sie ausgehen.

Ich schaue Jule in die Augen. Sie strahlt mich an und klopft mir aufmunternd auf die Schulter, als sei ich ein Kleinkind, das man beruhigen müsste, dabei bin ich älter als sie. Nicht viel, nur vier Monate, doch es sind immerhin vier Monate Lebenserfahrung, die uns voneinander trennen.

Mein Kopf hat die Information, dass ich meine beiden besten Freundinnen gleich für ein Jahr nicht mehr sehen werde, immer noch nicht ganz verarbeitet. Für manche mag das seltsam wirken, für manche mag mein Verhalten übertrieben, gar theatralisch wirken, aber für mich ist das völlig normal. Wir drei kennen uns nun schon seit dem Kindergarten, darum ist ein Leben ohne die Beiden für mich einfach nur unvorstellbar. 

»Ich hätte nie gedacht, dass wir uns je trennen würden. Und dann verliere ich direkt meine beiden besten Freundinnen auf einen Schlag«, murmele ich.

A Story of Broken HeartsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt