Olivia
Anscheinend hatte sich mein Tränenvorrat auf dem Weg hierher wieder aufgefüllt, denn meine Wangen waren innerhalb weniger Sekunden überströmt, während mein ganzer Körper von unkontrollierbaren Schluchzern geschüttelt wurde. Ich bekam nur am Rande mit wie die Musik verstummte und die anderen vier näher kamen. Mein Fokus lag auf Jacobs gleichmäßigen Atemzügen in meinen Haaren und den beruhigenden Bewegungen seiner Hand auf meinem Rücken. Beides zusammen beruhigte mich zumindest so weit, dass die Schluchzer leiser und seltener wurden. Eine zweite Hand gesellte sich zu der von Jacob.
„Was ist passiert, Olivia?", fragte Ella leise. „Ist bei dir Zuhause alles in Ordnung?"
Die Besorgnis in ihrer Stimme ließ die Tränen wieder schneller fließen. Mit einem Mal kam ich mir entsetzlich albern und kindisch vor. Ella und Phil hatten keine Eltern mehr. Der Vater verschwunden, die Mutter gestorben. Und ich stand hier und weinte mir die Seele aus dem Leib, weil meine Eltern sich nach etlichen gemeinsamen Jahren einvernehmlich trennten. Obwohl ich wusste, dass meine Freunde vollstes Verständnis für meinen Schmerz zeigen würden, fühlte es sich nicht so an, als dürfte ich ihn fühlen.
„Meine Eltern haben sich getrennt", brachte ich schließlich zwischen zwei Schluchzern hervor. „Mein Vater ist hier, um nach einer Wohnung zu schauen."
Ich hörte ein leises Fluchen, das ich nicht sicher zuordnen konnte. Vermutlich Noah oder Phil. Es fühlte sich seltsam an, so von meinen Freunden umrundet zu sein. Vor ihnen Gefühle zuzulassen und zu zeigen war noch nie ein Problem gewesen, doch von fünf Menschen gleichzeitig bemitleidet und getröstet zu werden, führte eher zu einem wachsenden schlechten Gewissen, als dass es mir half, mit der Situation klar zu kommen. Ohne undankbar wirken zu wollen, versuchte ich mich von Jacob zu lösen, der augenblicklich seine Arme fallen ließ und einen kleinen Schritt zurücktrat. Ich wusste nicht, ob er die Überforderung in meinem Blick sehen konnte oder was ihn sonst dazu brachte, eine Kopfbewegung in Richtung seines Zimmers zu machen. Ich war hierher gekommen, weil ich nicht allein sein wollte. Doch ich hatte mich selbst überschätzt und mich nicht so gut im Griff wie gedacht. Keiner der fünf Anwesenden hätte ein Problem damit, wenn ich mich einfach schweigend zu ihnen setzte und erst anfing zu reden, wenn ich bereit dazu war. Aber sie würden mich beobachten. Unauffällig. Besorgt. Und aus irgendeinem Grund machte das alles nur noch schlimmer. Also beantwortete ich Jacobs stumme Frage mit einem Nicken. Niemand sagte etwas, als er eine Hand auf meinen Rücken legte und mich zu seinem Zimmer führte. Er schloss die Tür hinter uns, während ich mich – wie erstaunlich oft in letzter Zeit – auf sein Bett setzte. Ohne mich berühren, nahm er neben mir Platz. Schwieg. Noch immer wurde mein Körper regelmäßig durchgeschüttelt. Ohne meine eigenen Gründe zu kennen, rückte ich näher an Jacob heran und legte meinen Kopf auf seiner Schulter ab. Es war Jacob. Entweder hatte er nichts dagegen, oder er würde mich einfach zurückschieben. Was er nicht tat. Stattdessen seufzte er und legte einen Arm um meine Schulter.
„Möchtest du reden?"
Ihm darauf zu antworten war unmöglich, weshalb ich nur den Kopf schüttelte und hoffte, dass der Kloß in meinem Hals irgendwann wieder verschwinden und mich nicht für den Rest meines Lebens begleiten würde.
„Okay, dann rede ich", murmelte Jacob, was mich derart überraschte, dass ich für einen kurzen Moment aufhörte zu schluchzen und meinen Kopf von seiner Schulter hob. „Ich war 15 Jahre alt, als meine Eltern sich getrennt haben", fuhr er fort, ohne mich dabei anzusehen. Stattdessen starrte er an die gegenüberliegende Wand. „Meine Eltern waren total kitschig verliebt. Haben ständig Händchen gehalten und sich in der Öffentlichkeit geküsst. Als Kind fand ich das eine Zeit lang echt furchtbar. In der Schule haben sich ein paar Idioten darüber lustig gemacht und mit ungefähr neun Jahren habe ich meine Eltern immer wieder angefleht, sich bitte nicht wie Teenager zu verhalten. Irgendwann habe ich dann aber realisiert, dass sie sich einfach sehr lieben und wie beneidenswert das ist. Jedes Mal, wenn sie sich geküsst, Händchen gehalten oder sich einfach nur tief in die Augen geschaut haben, wusste ich, dass ich auch einmal so glücklich verliebt sein wollte. Das habe ich natürlich nie laut ausgesprochen, denn ich war damals ein ziemlich cooler Typ."
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won't fall in love
Romance"Darf ich mal kurz kitschig werden?", fragte Olivia nach einer Weile angenehmen Schweigens. Aber kein Schweigen war so angenehm wie Olivia reden zu hören. Ihre Frage ließ mich jedoch misstrauisch werden. "Kitschig?" Ich hatte keine Ahnung worauf sie...