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"Julie, wenn du dich nicht beeilst kannst du zur Schule laufen", brülle ich durch die Wohnung.

Als Antwort darauf höre ich direkt ein mahnendes, aggressives Hämmern gegen die Küchenwand.
Neben uns wohnt ein alter, griesgrämiger Mann, von dem mir bei jeder Beschwerde mehr klar wird, wieso er immernoch alleinstehend ist.
Die Wände in diesem Haus sind sehr hellhörig, wenn ich so alt wäre, hätte ich auch keine Lust von brüllenden Teenagern geweckt zu werden, da allerdings sein Raucherhusten tagtäglich bei uns genauso laut erschallt, sollte gerade er sich mit seinen Beschwerden zurückhalten.

"Ich komme doch schon", antwortet meine kleine Schwester gehetzt, dabei weiß ich allerdings ganz genau, dass sie noch keinerlei Anstalten macht, das Bad zu verlassen.
Ich schneide schnell den Apfel fertig, bevor ich schließlich unser beider Mittagessen vorsorglich in unseren Schultaschen verstaue.

"Essen ist schon drin", maule ich, als Julie sich dazu herablässt, das Bad doch noch zu verlassen und ich ihr im vorbeigehen die Tasche in die Hand drücken kann.

"Kann ich mir nicht einfach was in der Mittagspause kaufen wie alle anderen auch?"
"Hast du das Geld dazu?", ich ziehe zweifelnd eine Augenbraue hoch.

Schweigend aber bedeutungsstark umgreift sie ihre Tasche, ehe sie schon in den nächsten Raum verschwindet.
Viel Geld haben wir leider nicht.
Oder Eltern.

"Das ist so unfair", beschwert sie sich, während sie auf einem Bein schwankend versucht ihren Schuh anzuziehen.
"Onkel Dan kann doch wenigstens etwas dazusteuern. Immerhin hat er das Sorgerecht übernommen"

Das ist wahr. Zwar hat er das Sorgerecht, unser Leben müssen wir uns neben der Schule allerdings selbst finanzieren. Dan wollte nichts mit uns zutun haben, nichtmal das Sorgerecht wollte er anerkennen.
Unter dem Kompromiss allerdings, dass wir unser Leben unabhängig von ihm gestalten und ihm nicht zur Last fallen, hat er schließlich nach sämtlichen Diskussionen doch zugestimmt.
Wenn das Jugendamt allerdings davon erfährt, dass wir unser eigenes Leben in dieser Wohnung führen und Onkel Dan das ganze letzte Jahr nicht mehr zu Gesicht bekommen haben, wären wir geliefert. In dieses scheiß Pflegesystem will ich garnicht erst integriert werden. Sie würden mich und Julie trennen.
Und das darf auf keinen Fall passieren.

"Glaubst du, das hätte er, wenn er auch noch zahlen müsste?", entgege ich also schlicht.
"Wir müssen einfach froh sein, zusammen hier wohnen zu können"

"Ich weiß", sie rollt zwar mit den Augen, ihre Stimme verrät allerdings, dass sie die ganze Situation noch immer mitnimmt.

Wir hatten dieses Gespräch schon so oft.
Vielleicht ist es nicht das Richtige.
Vielleicht würde es uns besser gehen in Pflegefamilien.
Aber wir haben uns für dieses Leben entschieden. Wenn wir uns auch noch verlieren, haben wir immerhin garnichts mehr.

"Sarah ist da", lenke ich das Gespräch um, meine Gedanken jedoch kreisen rund um die Uhr darum.

Sechs Monate noch.
Dann bin ich achtzehn.
Dann kann ich das Sorgerecht für Julie übernehmen.

Gemeinsam laufen wir die Treppen des Wohnhauses runter, um Sarah nicht allzu lang warten zu lassen.

"Hey Bitch", begrüßt Sahra mich freudestrahlend aus ihrem Caprio heraus und ich begrüße sie mit einer flüchtigen Umarmung nachdem ich mich auf den Beifahrersitz geworfen habe.
"Nicht vor der kleinen", mahnt Vanessa. Sie setzt sich immer schon vorsorglich nach hinten, weil sie ganz genau weiß, dass ich mich auf der Rückbank immer unwohl fühle.

"Ich bin schon fast sechzehn hallo", beschwert sich Julie.
"Oh, big Party oder wie. Wo ist meine Einladung", lacht Sarah, während sie um die Kurven brettert. Wer dem Mädchen den Führerschein gegeben hat, sollte sich eine bessere Brille zulegen.
Oder weniger auf die Titten als auf die Straße glotzen.

"Unsere Nachbarn kriegen nen Abdreher", wende ich lachend ein.
Es tut mir im Herzen weh, Julie ihren sechzehnten Geburtstag nächste Woche nicht richtig feiern lassen zu können. Aber neben der unpassenden Location fehlt uns auch einfach das Geld dazu.

"Ach quatsch. Den Sechzehnten hat man zu feiern. Du kannst bei mir feiern. Meine Eltern sind eh nicht da", bietet Sarah an.
Ehe ich irgendwie reagieren kann, nimmt Julie das Angebot schon an.

"Sweet Sixteen Baby. Julie Schatz komm doch in der Mittagspause zu unserem Tisch, dann planen wir was schönes", springt Vanessa mit ein.

Dafür sind die beiden meine Besten Freundinnen.
Dankend sehe ich die beiden an, aber Sarah, die den Blick genau kennt, winkt nur ab.

Die beiden sind stinkreich. Von unserer Situation wissen sie auch nur so halb etwas. Sie würden es wohl kaum verstehen können.
Ich will auch garnicht, dass sie es verstehen müssen, also reden wir nie darüber.

Sarah dreht die Musik noch etwas lauter, bevor wir auf den Schulhof fahren und alle Blicke auf uns gehaftet sind.

Wir sind so etwas wie die Beliebten an der Schule. Naja vorallem Van und Sarah, aber ich gehöre nunmal zu ihnen und damit bin ich wohl auch nicht außen vor.
Von alleine wäre ich aber auch wohl kaum an diesen Status gekommen.
Und es verändert.
In der Schule kann ich es mir nicht leisten über zuhause zu grübeln.

Also setze auch ich mein Lächeln auf.

Und auch Julies Ruf scheint es nicht zu schaden, bei uns mitzufahren.
Sofort läuft eine kleine, viel zu stark geschminkte Mädchengruppe auf uns zu und nimmt Julie in Empfang, die sich flüchtig mit einem Handzeichen von uns verabschiedet.

"Die Kleine kommt ganz nach dir", lacht Van und legt einen Arm um meine Schulter, als wir uns dem Eingang nähern.
"Was meinst du?", frage ich verwirrt.
Ich will nicht das Julie so wird wie ich. Ich würde alles tun um sie davor zu beschützen.

"Naja, sie ist super cool", lacht Sarah. Ich bin froh, dass die beiden Julie nicht als Last ansehen. Immerhin ist sie jeden Morgen und Nachmittag auf den Fahrten dabei.
Aber im Gegenteil. Die beiden lieben sie.

"Und super heiß", mischt sich Tyler, ein Typ aus der Gruppe zu der wir uns gesellt haben, ein.

Angewidert verzieht Sarah ihr Gesicht.

"Rede noch einmal so über sie und ich reiß dir persönlich deine Eier ab", lächel ich ihn gespielt süß an und verfestige im Anschluss meine Miene nachdrücklich.

Julie kommt nunmal jetzt in ein Alter, indem sie auch für Jungs interessant wird. Immerhin ist sie ja auch nur 1½ Jahre jünger als ich.

Aber jeder sollte Wissen, dass sie Tabu ist. Zumindest in meinem Jahrgang. Das ist das Gute daran, zu den Beliebtesten zu gehören.
Man hat eine gewisse Art der... naja...
Macht

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