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"So, und damit verlangt ihr exakt 98.403 Euro", triumphierend überreiche ich Henry das Handy.
"Und ein Unversehrtheitsversprechen für uns alle"

Wir haben ein kleines Video gedreht, in dem es ziemlich realistisch so aussieht, als würde ich die beiden Männer, die uns angegriffen haben, ganz alleine, als Frau wohlgemerkt, überwältigen.

Auch wenn es lächerlich ist, wird dieses Video wenn es erstmal in den anderen Gangs rumgeht, sowohl den Ruf der beiden Männer, als auch den der ganzen Gang, nachhaltig ruinieren.

Die Idee dazu habe ich mir von Nathan abgeguckt, immerhin muss die Scheiße ja auch irgendetwas gelehrt haben.

Die beiden Typen haben Lukas und Marc unterdessen irgendwo am Stadtrand ausgesetzt.

Die Nachricht mit der Forderung inklusive.

"Du bist wirklich die beste", lacht Henry.
"Aber sag mal, geht's dir wirklich gut?", fragt er und fasst leicht an meine Schläfe, die noch etwas pocht.

"Jaja", winke ich ab.
Eine Autotür knallt.

Ich sehe erschrocken auf.

Avery.

"Ich lenk sie ab, ihr räumt auf. Adrian wurd heute einfach massivst beim Kampf auseinandergenommen. War ein Unfall", erkläre ich den Plan, als die Blicke der Jungs genauso erschrocken sind.

Und so klettere ich über all das Chaos und ziehe die Haustür gerade rechtzeitig hinter mir zu, als auch schon Avery direkt vor mir steht.

"Liv alles gut?", fragt sie besorgt.
Da ich noch keine passende Story dazu habe, umarme ich sie einfach.
Stumm umarmt sie mich auch.

Und während wir so da stehen, löst sich alles in mir.
Der ganze Stress mit Julie, Nathan, das ganze Drama von gerade, die unglaubliche Sorge um Adrian.

Auf einmal und ohne, dass ich irgendetwas dagegen tun kann rinnen mir die Tränen unaufhaltsam aus den Augen.
Ich schluchze leise auf und Avys Griffe um mich werden noch fester.

"Hey, hey was ist los?", fragt sie beruhigend.

"Kannst du mich weg von hier bringen?", frage ich nach einer Zeit.
"Klar. Hat Adrian was falsches gesagt?", fragt sie besorgt und führt mich mit einer Hand am Rücken zu ihrem Auto.
Ich schluchze erneut auf und kann nur den Kopf schütteln.

"Wohin willst du? Nachhause?", fragt sie.
Ich schüttle erneut den Kopf.
"Ich will einfach weg"

Avery fährt mit mir zu einem kleinen See am Stadtrand.
Gemeinsam setzten wir uns auf dessen Steg und ich lehne meinen Kopf an ihre Schulter.

Kurz sitzen wir einfach so da.
Aber ich weiß, dass ich Avery eine Erklärung für mein Gefühlsausbruch schulde.

"Ich mache mir so schrecklich Sorgen um Julie", beginne ich zu reden, als meine Stimme weniger bebt. Eine Träne rinnt trotzdem runter.
"Warum?", fragt Avery, aber sie fordert nicht.

"Sie hat mich gestern Abend total angemacht. Sie hat gesagt ich würde sie einengen, ihr keinen Freiraum bieten. Generell verhält sie sich so untypisch in letzter Zeit. Und ich habe das Gefühl, als sei all das meine Schuld, dabei tue ich das alles um sie zu beschützen", erkläre ich mit müder Stimme.

"Was denn zum Beispiel?", fragt Avery vorsichtig.

Ich richte mich auf und starre einfach ins Wasser.

"Vor ein paar Wochen, Julies Geburtstagsparty, da wurde Julie vergewaltigt", erzähle ich und Avery zieht leise erschrocken die Luft ein.

"Sie kann sich an nichts erinnern, also habe ich ihr nichts davon erzählt. Aber Nathan... Nathan hat Bilder davon. Und er erpresst mich damit. Nur deswegen bin ich mit ihm zusammen", ich schaue sie mit glasigen Augen an.

"War er das? Hat er dir weh getan?", fragt Avery. Ich nicke nur und sie schließt mich wieder in eine Umarmung.

"Du darfst Adrian nichts davon erzählen. Niemals. Versprich es", bitte ich sie.

"Du hast dich in ihn verliebt oder?", fragt Avery.

Ich nicke, ehe ich verstehe.

Aber ja.
Ich schätze das habe ich.
Ich habe es versucht zu verdrängen. Jedesmal aufs neue habe ich ausreden gesucht, warum ich mich so gegenüber ihm verhalte, so denke, so fühle.

Die Blicke, die Worte, die Emotionen.

Als Nathan mir das angetan hat, haben meine Beine mich direkt zu ihm geführt. Und er hat sich um mich gekümmert, hat mich beschützt, ich habe mich sicher gefühlt.

Ich dachte ich will nicht, dass er weiß, dass es Nathan war, weil ich nicht wollte, dass er ihm was tut und Nathan reagiert.
Aber ich schätze ich wollte auch einfach nicht, dass er erfährt, dass ich mich habe kaufen lassen. Zu einem spottpreis von ein paar Fotos.

"Komm, ich bring dich nachhause", fordert Avery.
"Und ich sage nichts. Niemandem. Aber wir finden eine Lösung. Zur Not bringe ich Morgige im Schlaf um"

Als Avery mich bis nachhause vor unsere Wohnungstür bringt habe ich mich schon wieder beruhigt.
Gefasst betrete ich die Wohnung.

Aber diese Fassung wird bedroht, als ich Julie weinend auf dem Sofa sitzen sehe.

Sofort eile ich zu ihr und Knie mich vor sie.

"Liv, ich kann mich an alles erinnern", schluchzt sie.
"Ich wurde vergewaltigt"

Erschrocken sehe ich sie an.

"Und ich danke dir dafür, dass du es mir verheimlichen wolltest, wirklich, denn ich würde alles dafür tun, diesen Schmerz nicht fühlen zu müssen. Aber ich bin auch so sauer. Und ich weiß, ich habe kein Recht dazu, weil du immer alles für mich tust, aber ich trage diese Wut, diesen Schmerz in mir. Ich hätte dich gebraucht, aber du warst nicht da. Und ich weiß es ist unfair von mir. Aber du warst auch danach nicht für mich da. Und das ist eben auch ein bisschen unfair von dir", schluchzt sie.

Mit großen Augen starre ich sie an.
"Aber warum hast du denn nichts gesagt?"

"Du warst so glücklich. Mit Nathan. Und glaub mir niemand verdient das mehr als du", sie nickt und ringt dabei nach Luft.
"Aber du bist ihm näher gekommen während ich die schlimmste Zeit meines Lebens hatte. Und dann bist du die ganze Zeit nicht da für mich sondern bei ihm während ich innerliche Höllenqualen durchstehe.
Es ist nicht richtig, aber während du geliebt hast, konnte ich nur Hass empfinden. Und Schmerz. Und Einsamkeit. Wir waren immer füreinander da. Aber einmal habe ich wirklich feinen Beistand gebraucht und du hast jemand anderen gefunden"

Ihre Worte rühren mich zu Tränen.
Während ich versucht habe sie zu beschützen habe ich sie allein gelassen. Ich war diejenige, die sie verletzt hat.

Ich umarme sie so fest ich kann.

"Es tut mir so leid", schluchze ich.
"Ich habe das alles nur für dich getan"

"Ich weiß", schluchzt auch sie.

"Nein", ich lehne mich zurück.
"Du verstehst nicht. Ich bin nur deswegen mit Nathan zusammen. Er hat... Er hat Fotos davon. Von dir. Dabei. Und er erpresst mich damit"

Sie sieht mich geschockt an.
Zusammen weinen wir uns aus.

"Liv, du musst damit aufhören. Du musst Schluss machen", ich sehe sie fragend an.
"Soll er die Fotos doch veröffentlichen. Ich bin das Opfer. Aber ich komme damit klar. Jetzt habe ich ja wieder dich an meiner Seite", sie zieht einen Mundwinkel müde hoch.

Auch ich lächle leicht. Erleichtert.

Dann nicke ich.

"Na mach schon", lacht sie leicht und schubst mich von sich.
"Jetzt?", frage ich erstaunt.

"Natürlich. Keine Sekunde länger wirst du mit dem zusammen sein"

Ich grinse.
Es ist vorbei.

BABEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt