11. Juni 2011

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Der Unterricht war schleppend, so schleppend, dass mir beinahe die Augen zufielen. Von der anderen Seite des Raumes aus blickten mich grüne Augen an mit einem frechen Grinsen. Mein bester Freund wedelte mit der Schleuder, die er selbst gebaut hatte und nun im Begriff war, unsere Klassenkameraden mit kleinen Papierkügelchen abzuschießen. Er zielte auf eine unserer Mitschülerinnen, Lydia, schloss dabei ein Auge konzentriert und einen Moment später flog das kleine Stück Papier in einer perfekten Linie auf sie zu und traf sie am Arm.Genervt wollte sie etwas sagen, doch Miss Jackson kam ihr zuvor. „Harry! Wenn du so weiter machst, schicke ich  dich erneut zum Direktor!" schrie sie ihn an und ich musste mich stark konzentrieren, nicht loszuprusten.

Harry sah sie unschuldig an. „Bitte entschuldigen Sie vielmals, Miss Jackson. Es war ein bedauerliches Versehen!" erklärte er mit Unschuldsmine und sie seufzte genervt, ehe sie kopfschüttelnd zurück an ihr Pult ging und uns alle der Reihe nach ansah.
„Wir haben heute eine besondere Aufgabe geplant, für den Abschluss des Schuljahres. Es ist etwas, was wir jedes Jahr tun, und es ist etwas Kreatives." Sie lächelte breit und ich sah, wie Harry augenblicklich die Augen verdrehte. Ich hingegen war gespannt, ich mochte kreative Dinge, im Kunst- und Musikunterricht war ich schon immer sehr gut gewesen. Englisch lag mir auch, nur bei Mathe haperte es.
„Ich möchte, dass ihr einer Person, die euch wichtig ist, eine E-Mail schreibt. Am besten eurem besten Freund oder eurer besten Freundin. Seid kreativ und erzählt, was ihr für die Person empfindet, wofür ihr dankbar seid, alles eben."
„Und wozu?" fragte Harry.
Miss Jackson sah zu ihm. „Diese E-Mail wird in 13 Jahren erst versendet. Es ist eine Art Zeitkapsel. Was möchtet ihr, was eure derzeitigen Freunde in 13 Jahren von euch lesen? Was denkt ihr, werden sie in 13 Jahren tun? Als was werden sie arbeiten? Schreibt ruhig eure Vorhersagen füreinander auf!"

„Harry ist vermutlich im Knast", rief ich lachend und er stieg darin ein, was im Gegenzug die ganze Klasse zum Lachen brachte. Miss Jackson sah mich schmunzelnd an und schüttelte den Kopf. „In euren Links auf dem Schulportal findet ihr die Webseite, die wir nutzen werden. Nehmt euch die Zeit in den letzten Stunden dieses Tages und schreibt drauf los. Wenn ihr fertig seid, habt ihr Sommerferien!" sagte sie mit einem sanften Lächeln.
Im Raum entstand ein unzufriedenes Murren, während ich innerlich Freudentänze machte. Die Kreativübungen, die wir jedes Jahr am letzten Tag des Jahres machten, waren immer meine Lieblingsaufgabe gewesen. Deshalb öffnete ich sogleich das Portal an dem Computer vor mir und öffnete den Link. Mit einem kleinen Lächeln registrierte ich mich und tippte Harry's E-Mail-Adresse in die Empfängerleiste, setzte das Sendedatum auf den 11. Juni 2024. In genau 13 Jahren würde er sie bekommen, wenn er die E-Mailadresse noch haben sollte. Aufgeregt tippte ich los.

Hey Curly,

das ist irgendwie seltsam aaah. Im Moment sind wir 13 und in der 8. Klasse. Vielleicht erinnerst du dich ja, Miss Jackson zwingt uns, Briefe in die Zukunft zu schicken. Du schreibst (hoffentlich) gerade einen an mich und ich schreibe einen an dich. Ich hoffe, wir lachen gemeinsam, wenn wir sie in 13 Jahren lesen. Irgendwie ist das angsteinflößend, aber gleichzeitig aufregend!

Sie will, dass wir eine Vorhersage treffen und was wir denken, was wir so treiben in 13 Jahren. Außerdem sollen wir aufschreiben, was wir schon immer sagen wollten, zueinander. Ich fange einfach mal mit der Vorhersage an...
Ich denke du wirst an der Uni sein und dein finales Jahr machen, hoffentlich den Master in Englisch, wie du es dir vorgestellt hast. Wer weiß, wenn du endlich anfängst, mit mir zu üben, wirst du vielleicht ja doch in Oxford aufgenommen! Ich mache hoffentlich mein Biologiestudium, dass ich unbedingt machen will und wir lesen diese E-Mail gerade zusammen in unserem Zimmer im Studentenwohnheim. Hoffentlich ist es hübsch eingerichtet und wir haben Lichterkettern aufgehängt und die hellblaue Polaroidkamera, die wir uns beide so wünschen, ist mittlerweile bei uns eingezogen. Außerdem hoffe ich, dass wir endlich zum Eminem Konzert durften und deine Mutter sich hat breitschlagen lassen.

Und nun zu den Dingen, die ich dir gern sagen will. Ich muss hier ein bisschen auf geheimnisvoll tun, weil du die ganze Zeit zu mir rübersiehst und das macht mich ganz nervös. Miss Jackson läuft auch durch die Gänge und schaut jedem über die Schulter, was noch viel schlimmer ist. Also wie fange ich das jetzt an? Das hier könnte gut ausgehen oder wahnsinnig schlecht.
Entweder wirst du sagen, dass du es schon damals genauso gewusst hast und wie romantisch es ist, oder du wirst denken „Hilfe, wie unangenehm". Aber ich sage es jetzt: Ich mag dich, ich mag dich sogar sehr.

Manchmal denke ich, dass du vielleicht dasselbe fühlst, weil du mich manchmal so ansiehst, als wäre ich dir der liebste Mensch auf der Welt. Aber du weißt ja nicht einmal, dass ich auf Jungs stehe, das habe ich mir noch nie getraut zu sagen. Aber jetzt...ach scheiß drauf. Ich sage es, wie es ist: Ich liebe dich, Harry. Ich liebe dich und ich hoffe, dass du dasselbe fühlst wie ich. Ich hoffe, dass wir das hier gemeinsam lesen und dass wir zusammen sind und eine glückliche Beziehung führen. Ich hoffe, dass wir beide erfolgreich sein werden und uns alle um unser Leben und unsere Liebe richtig doll beneiden. Das alles hier ist super peinlich und wahrscheinlich wirst du dich jetzt richtig lustig über mich machen, aber ich hoffe auf eine liebevolle Art und Weise.
Wie auch immer, das wäre auch schon alles (Wie peinlich ist all das hier eigentlich, hm?)

Von deinem besten Freund fürs Leben
XOXO
Louis

Tief atmete ich durch und lehnte mich zurück, ehe ich mich noch einmal vergewisserte, dass das Datum für die Absendung stimmte. Dann drückte ich auf den Knopf und ein bisschen klopfte mein Herz, während das kleine Zahnrad sich drehte. Dann erschien auf dem Bildschirm eine Bestätigung der Sendung und ich schluckte, ehe ich zu Harry rüber sah. Er spielte wieder mit irgendwelchen anderen Sachen, schien bereits mit dem Schreiben fertig zu sein.
„Louis, schon fertig?" fragte mich Miss Jackson und ich nickte ihr zu. „Ja, schon fertig."
„Dann kannst du ja gehen!" sagte sie mit einem Zwinkern. „Ich wünsche dir einen wundervollen Sommer, mein Lieber!"
Lächelnd fuhr ich den Computer herunter und schnappte mir meinen Rucksack. Harry bemerkte es und machte es mir sofort nach, winkte Miss Jackson zum Abschied und sprintete förmlich aus dem Raum.

Lachend folgte ich ihm und er legte den Arm um mich und atmete geräuschvoll aus, als wir das Schulgebäude verließen und in die Sonne traten. „Endlich geschafft, Lou! Wir sind endlich frei!" rief er, woraufhin ich laut lachte. „Nur für acht Wochen!" erinnerte ich ihn, worauf er leise schnaubte. „Hör auf mir die Stimmung zu vermiesen, Loulou!" maulte er scherzhaft und ich grinste breit, ich liebte es, wenn er mich so nannte. Das leichte Kribbeln in meinem Magen ignorierte ich so gut es ging, während Harry vor sich hinplapperte und mir von den unzähligen Plänen erzählte, die er für diesen Sommer hatte. Sie alle beinhalteten mich, was mich stolz vor mich hin grinsen ließ. „Hast du deine Moment wegen dem Eminem Konzert gefragt?" fragte ich irgendwann und er seufzte theatralisch auf. „Natürlich! Sie sagt, wir sind zu jung! Die hat echt keine Ahnung von irgendwas!" maulte er sofort und ich schmollte. Wir beide wünschten uns nichts sehnlicher, als beim Eminem Konzert gemeinsam in der ersten Reihe zu stehen. Während meine Mom es mir erlaubt hatte, war Harry's Mutter stur. Sie hielt rein gar nichts von Rapmusik und deshalb durfte Harry mit mir auch nicht diese einmalige Erfahrung machen.

Als wir bei seinem Haus ankamen, das etwa zwei Straßen weiter von meinem eigenen Zuhause war, drehte er sich zu mir um und sah mich neugierig an. „Hast du mir geschrieben? Die Mail meine ich?" fragte er mich.
Sofort nickte ich. „Wem denn sonst?" fragte ich lachend die Gegenfrage, woraufhin er grinste und mir glücklich in die Augen sah.
„Ich kann es kaum erwarten, die in dreizehn Jahren mit dir zu lesen! Sicher finden wir es dann nur peinlich, weil wir dann alt und gebrechlich sind!"
Lachend schüttelte ich den Kopf. „Hazza, wir sind dann 26!" Er nickte. „Sag ich ja! Steinalt!"
Harry umarmte mich lachend, ehe er zur Haustür ging. Kurz davor drehte er sich noch einmal zu mir um. „Freitag wieder Kino?"
Ich nickte. „Klar! Sag mir Bescheid, ob du Ärger bekommen hast, wegen der vier in Chemie!" rief ich, hörte nur noch sein Lachen und trat grinsend den Heimweg an. Zufrieden seufzte ich und stellte mir vor, wie ich irgendwann einmal den Mut haben würde, dem Lockenkopf meine Gefühle zu gestehen. 

All This Time | L.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt