Harry - Keine Option

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"Willst du mir eigentlich erzählen, was mit dir los ist?"
Lilly sah mich prüfend an, ihre Arme hatte sie verschränkt vor ihrem Körper und sie zog den Mundwinkel ein wenig nach unten, das tat sie immer, wenn sie unzufrieden war. Ich hatte seit meiner Ankunft in London wenig gesprochen, es war kein Wunder, dass sie mir diese Frage stellte. Dennoch schüttelte ich den Kopf. "Es ist nichts los. Ich bin einfach ein wenig erschöpft von dem Wochenende", antwortete ich ihr nur. 
"Du warst schon bei deinem Vater so seltsam drauf", bemerkte sie. 

Ich seufzte und verdrehte die Augen. "Jetzt hör doch mal auf! Ich bin einfach müde, Lilly! Oxford war anstrengend, Lou und ich hatten eine Menge zu erzählen und er hat mir den ganzen Campus gezeigt. Wir haben ein bisschen gefeiert und getrunken, da ist es doch nicht verwunderlich, dass ich erschöpft bin, oder nicht?!" fuhr ich sie an. Es war nicht meine Absicht, doch das schlechte Gewissen nagte an mir, weshalb mein Nervenkostüm ein wenig dünner wurde. Sie sah mich fast schon erschrocken an, ehe sie sich an den Tisch setzte und mich anblickte. Das war ihr Zeichen, dass sie darüber reden wollte. 
Ich verkniff mir ein erneutes Augenrollen, setzt mich ihr gegenüber und sah sie an. "Vater war einfach sehr anstrengend, Darling. Du weißt genau, dass ich ihn manchmal nicht über einen längeren Zeitraum ertrage." 
"Zwei Stunden, Harry. Es waren zwei Stunden!" bemerkte sie spitz. 
Ich nickte. "Zwei Stunden sind manchmal eben genug, verstehst du?" 

Sie atmete tief durch und sah mich weiterhin prüfend an. "Er möchte nur, dass auf der Hochzeit alles glatt läuft. Bei den Kosten auch kein Wunder", verteidigte sie ihn und das hasste ich fast noch mehr als ihren misstrauischen Blick. Lilly war nie auf meiner Seite, immer auf der meines Vaters.
"Es wird alles glatt laufen", sagte ich deshalb nur schlicht und sie nickte, ehe sie in ihrer Tasche wühlte und einen gefaltenen Zettel auf den Tisch zwischen uns legte. Ich runzelte die Stirn und sah sie fragend an. "Was ist das?"
Sie lächelte leicht. "Deine Laune hat nicht zufällig etwas damit zutun, oder?" fragte sie. Irritiert nahm ich den Zettel und faltete ihn auf. Als ich sah, was es war, riss ich die Augen auf. Es war Louis' Mail, die ich in meinen Händen hielt. Sie musste mir aus der Geldbörse gefallen sein.

"Warum soll das etwas damit zutun haben?" fragte ich sie leise. Lilly verschränkte die Arme wieder und ihr Blick blieb auf dem Zettel hängen. "Das ist doch von Louis, von dem Louis, bei dem du die letzten Tage warst, oder nicht?" 
Ich nickte und sah sie an. "Die hat er geschrieben, als wir 13 waren", antwortete ich ihr ruhig. Lilly nickte. "Und liebt er dich noch immer?" 
Reflexartig schüttelte ich den Kopf. "Lilly, wir waren 13 Jahre. Es war eine kindische Verliebtheit, mehr nicht, also bitte!" sagte ich sofort und sie nickte nur leicht und schien nachzudenken. "Ich habe mich immer gefragt, wieso alle so geheimnisvoll sind, wenn es um das Jahr nach deinem Abschluss ging." 

Mir wurde heiß und ich mied ihren Blick. Ich hatte ihr nie von dem Konversionscamp erzählt und ich plante, dass dies auch so bleiben würde. Diese Zeit meines Lebens war so traumatisch gewesen, dass ich sie ausblenden wollte und am Besten nie wieder darüber nachdenken wollte. Doch natürlich war das unmöglich, wenn man einen Vater hatte, der einen ständig daran erinnerte, dass man das dort "Gelernte" ja nicht vergessen sollte. Dass man auf dem richtigen Weg bleiben musste, sich nicht hinreißen lassen durfte zu irgendwelchen Sünden. Sünden, denen ich mich dieses Wochenende nur allzu gern hingegeben hatte. Und wenn ich ehrlich war, war es die beste Zeit seit vielen Jahren gewesen. Ich befand mich in einer wahren Zwickmühle, denn ich wollte nichts anderes, als meinem Herzen folgen, doch würde ich dadurch womöglich alles verlieren. 
"Du weißt, dass ich nicht darüber rede", antwortete ich ihr zeitverzögert. 

Lilly nickte. "Das musst du auch nicht", sagte sie und sah mich mit zornigen Augen an. "Ich weiß von dem Camp und ich weiß, dass du nicht ganz so hetero bist, wie du gern tust, Harry." 

Erschrocken sah ich sie an und wusste nicht, was ich sagen sollte. Lilly's Blick war wissend und sie schien meine Reaktion abzuwarten, doch ich wusste überhaupt nicht, wie diese auszusehen hatte. Was erwartete sie nun von mir? Das einzig logische war Verneinen, doch diese Worte kamen mir einfach nicht über die Lippen. Stattdessen bildete sich ein kleiner Funken Hoffnung, ein winziger Lichtblick, dass sie vielleicht ein einziges Mal auf meiner Seite sein würde. Doch als sie den Mund öffnete, verlor ich auch diese Hoffnung. 
"Ich nehme an, dass du mit dem Kerl Sex hattest dieses Wochenende?" 

"Was?! Lilly, nein! Das ist nicht wahr, es gibt nichts zu erzählen!" rief ich panisch und sie lachte bitter auf. "Allein die Panik in deinen Augen reicht mir aus, Harry. Also sei einmal ehrlich zu mir, hattet ihr Sex?" fragte sie mich erneut in ganz ruhigem Ton. 
Seufzend sah ich sie an und dann tat ich etwas, dass ich schon sehr lange nicht mehr getan hatte. Ich nickte leicht. 
"Es tut mir leid, Lilly. Es tut mir wirklich sehr leid und ich habe die Sache beendet. Ich meine, es gab da nicht wirklich etwas zu beenden, aber es ist aus und vorbei. Glaub mir, ich habe ihm gesagt, dass wir heiraten und bin abgereist!" Ich hatte das Gefühl, mich um Kopf und Kragen zu reden, doch was sollte ich schon tun? Lilly verlassen war keine Option, dafür würde mein Vater sicherlich sorgen. Ich war gefangen. 
Die Blondine sah mich an, für einen Moment wirkte sie fast schon, als wäre in ihrem Blick ein wenig Bedauern zu erkennen. Doch nur für einen Moment. 
"Wenn die Hochzeit nicht stattfindet, Harry, dann sage ich es deinem Vater." 

Von einer Sekunde auf die andere wich mir das Blut aus den Adern. Ich spürte, wie ich blass wurde, sah sie schockiert an und schüttelte den Kopf. 
"Das kannst du nicht tun", hauchte ich. 
Sie sah mich jedoch streng an. "Doch, kann ich. Und werde ich, glaub mir." 
"Aber warum?!" rief ich und stand auf, ging ein paar Schritte auf und ab. 
Sie schnaubte, stand ebenfalls auf. "Weil ich mir meine Zukunft nicht davon kaputt machen lasse, dass du deinen Schwanz gerne in Männer steckst!" rief sie. Ich sah sie erschrocken an, erkannte die Frau, die da vor mir stand, gar nicht mehr wieder. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich ließ die Schultern sinken und sah sie niedergeschlagen an. In diesem Moment wurde es mir klar. Lilly hatte eine Abmachung mit meinem Vater. 
"Hat er dir Geld geboten, für die Hochzeit?" 

Sie sah mich einen Moment an, dann nickte sie leicht. "Es ist nicht so, dass ich dich nicht mag, Haz. Ich mag dich extrem gern. Aber unsere Väter haben schon lange eine Abmachung miteinander, was uns angeht. Dir haben sie damals nichts gesagt, damit du nicht wieder eine impulsive Entscheidung triffst. Mir schon. Und weil ich mich damals so in dich verliebt habe, hat es mir natürlich nichts ausgemacht." 

Fassungslos schüttelte ich den Kopf und spürte den Kloß im Hals immer größer werden. "Mein Vater hat so eine Angst davor, dass ich vom Weg abkomme, dass er lieber mit Geld dafür sorgt, dass ich jemanden heirate", hauchte ich. 
"Jemanden den du liebst, Harry. Vergiss das nicht, so furchtbar ist das doch auch nicht", ergänzte sie und ich schloss die Augen und atmete tief durch. "Und das soll mein Leben sein? Dich heiraten, sonntags in die Kirche und danach zu meinem Vater, soll er mich mein Leben lang also kontrollieren und in Schach halten?" fragte ich sie. 
Lilly sah mich an. "Deine ganze Karriere hängt davon ab. Er hat alles für dich so arrangiert, dass du ein gutes Leben haben wirst, wieso ist das so furchtbar für dich, Liebling?" 

Ich schnaubte und schüttelte den Kopf, ehe ich nach meiner noch immer gepackten Tasche griff und sie wütend ansah. "Denkst du, ich heirate dich jetzt noch? Lieber bin ich arbeitslos, als dass ich noch länger warte und weiter die Person verletze, die mir immer am wichtigsten von allen war!" rief ich aufgebracht. 
"Wo willst du jetzt hin? Du kannst nicht einfach gehen!" rief sie mir entgegen, doch ich griff nach dem Schlüssel und dem Zettel mit der Mail, sah sie noch einmal an. "Rede mir nicht ein, ich wäre ein schlechter Mensch, nur weil ich meinem Herzen folgen will", bat ich sie. 
Doch Lilly wurde nur wütender. "Spinnst du jetzt total?! Wir verlieren beide alles, wenn du jetzt gehst!!" schrie sie mich an. 
Ich nickte und schulterte meine Tasche. "Ich muss mir mein Leben zurückholen, Lilly. Ich muss meine verlorene Zeit zurückholen." 

All This Time | L.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt