Kapitel 1: Der letzte Zug nach Mitternacht

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Der kalte Wind pfiff durch die dunklen Gassen von Linz. Es war eine dieser Nächte, in denen die Stadt ungewöhnlich still war. Die Straßenlaternen warfen lange Schatten auf das Kopfsteinpflaster, und hin und wieder huschte ein einsamer Passant vorbei, der seinen Mantel eng um sich schlang, um der eisigen Kälte zu trotzen.

Am Hauptbahnhof war es nicht anders. Um diese späte Stunde hatten die meisten Reisenden ihr Ziel bereits erreicht oder warteten geduldig in einem der warmen Züge, die nach und nach in die Nacht hinausfuhren. Doch auf Gleis 21 stand ein alter, verwitterter Zug, dessen Existenz die meisten zu ignorieren schienen. Die Waggons waren dunkel und schienen seit Jahren nicht mehr benutzt worden zu sein. Die Fenster waren schmutzig, als hätten sie Jahrzehnte lang keinen Tropfen Regen gesehen, und das rostige Metall knirschte unter dem Druck des Windes.

Die Anzeigetafel zeigte keine Abfahrtszeit für diesen Zug. Niemand schien sich darum zu kümmern, niemand – außer Lara.

Lara war eine junge Frau, Anfang zwanzig, mit einer Vorliebe für das Ungewöhnliche. Sie liebte Geschichten über das Übernatürliche und Mysteriöse und hatte schon von dem "Geisterzug von Linz" gehört, einer Legende, die unter den Bewohnern als Gruselgeschichte bekannt war. Die Geschichte erzählte von einem Zug, der in der Nacht ohne Ziel durch die Gegend fuhr, ein Zug, der Menschen mitnahm, die nie wieder gesehen wurden. Für viele war es nur eine alte Sage, doch für Lara war es ein Rätsel, das es zu lösen galt.

An diesem Abend war sie zum Bahnhof gekommen, um mehr über diesen Zug herauszufinden. Sie stand am Rande von Gleis 13 und betrachtete den dunklen Zug, der dort stand. Ihr Herz klopfte schneller, und eine Mischung aus Furcht und Faszination überkam sie.

„Was mache ich hier?", flüsterte sie zu sich selbst und trat einen Schritt näher an die Kante des Gleises. Sie fühlte sich wie in einem Traum gefangen, einem Traum, aus dem sie nicht erwachen wollte, selbst wenn es beängstigend war.

Plötzlich ertönte ein leises Pfeifen, fast zu leise, um es zu hören. Laras Augen weiteten sich, als sie bemerkte, dass sich der Zug langsam zu bewegen begann. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, und sie trat instinktiv einen Schritt zurück. Doch irgendetwas hielt sie zurück. Eine unsichtbare Kraft schien sie zu dem Zug zu ziehen, eine Kraft, die sie nicht verstand.

Langsam, als hätte sie alle Zeit der Welt, bewegte sich der Zug aus der Dunkelheit des Bahnsteigs heraus. Die Türen des vordersten Waggons öffneten sich mit einem lauten Knarren, und eine kühle Brise wehte Lara entgegen. Sie fühlte sich wie versteinert. Irgendetwas in ihr schrie, dass sie weglaufen sollte, doch ihre Beine verweigerten den Dienst.

Ein Mann trat aus dem Zug. Er war in einen langen, schwarzen Mantel gehüllt, und sein Gesicht war im Schatten verborgen. Seine Augen, die einzigen, die in der Dunkelheit zu leuchten schienen, fixierten Lara mit einem seltsamen, eindringlichen Blick. Er hob die Hand und machte eine einladende Geste.

„Willkommen", sagte er mit einer Stimme, die so kalt und unheilvoll klang wie der Wind, der um sie herum pfiff. „Steigen Sie ein."

Lara spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Sie wollte etwas sagen, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Sie wusste, dass sie jetzt eine Entscheidung treffen musste. Vor ihr lag das Unbekannte, das Abenteuer, das sie so sehr suchte, aber auch die Gefahr, die sie instinktiv spürte.

Mit einem letzten Blick auf den verlassenen Bahnsteig trat sie einen Schritt vor. „Was habe ich zu verlieren?", dachte sie und setzte einen Fuß auf die unterste Stufe des Zuges.

In diesem Moment änderte sich alles. Die Luft um sie herum wurde dichter, und die Geräusche der Stadt verstummten plötzlich. Es war, als wäre sie in eine andere Welt eingetreten, eine Welt, in der die Zeit stillstand und die Schatten zu leben begannen.

Der Mann im Mantel lächelte und trat zur Seite, um Lara eintreten zu lassen. „Der letzte Zug nach Mitternacht", sagte er leise, während sich die Türen hinter ihr schlossen.

Die Lichter im Inneren des Zuges flackerten kurz auf und gingen dann wieder aus. Lara stand nun in völliger Dunkelheit. Ihr Herz raste, und sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie gerade eine Grenze überschritten hatte, die sie nie hätte überschreiten dürfen.

Doch es gab kein Zurück mehr. Der Geisterzug von Linz hatte sie mitgenommen, und niemand wusste, wohin die Reise führen würde.

Der Geisterzug „Schattenreise"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt