Kapitel 25: Annas Aufbruch

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Der Zug rollte weiter durch die Dunkelheit, doch diesmal war etwas anders. Die kalte, beklemmende Atmosphäre, die die Schattenwelt bisher geprägt hatte, begann zu weichen. Ein seltsames, aber beruhigendes Licht tauchte am Horizont auf, und Lara spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Es war, als ob die Dunkelheit selbst Platz machte für etwas Größeres, etwas Heiliges.

Anna saß neben ihr und starrte nachdenklich aus dem Fenster. Seit sie ihre wahre Identität im Tor der Wahrheit erkannt hatte, war sie stiller geworden, nachdenklicher. Lara konnte sehen, dass Anna mit ihren Erinnerungen rang, aber auch, dass eine innere Stärke in ihr aufblühte.

Plötzlich kam der Zug zum Stehen. Kein Kreischen der Bremsen, kein Rucken, nur ein sanftes Anhalten, als ob er von einer unsichtbaren Hand gehalten wurde. Ein helles, warmes Licht füllte den Wagen, und Lara blinzelte, um ihre Augen an den plötzlichen Helligkeitswechsel zu gewöhnen.

„Wo sind wir?" flüsterte Lara, doch bevor jemand antworten konnte, spürte sie eine sanfte Berührung an ihrem Ohr. Sie drehte sich um und sah, wie Anna sich zu ihr vorbeugte. Mit einer ruhigen, festen Stimme flüsterte Anna Lara ihren richtigen Namen ins Ohr. Laras Augen weiteten sich, als sie erkannte, dass Anna die ganze Zeit gewusst hatte, wer sie wirklich war.

Bevor Lara etwas sagen konnte, erhellte sich der Raum noch mehr, und vor ihnen erschien eine Gestalt. Sie war wunderschön, fast überirdisch. Eine junge Frau mit leuchtenden Augen und einem sanften Lächeln, die eine Aura von Frieden und Wärme ausstrahlte. Sie trug ein einfaches, weißes Gewand, das wie Seide im Licht schimmerte. Ihre Augen waren auf Anna gerichtet, und als sie sprach, klang ihre Stimme wie eine Melodie.

„Anna," sagte die Frau sanft, „deine Reise endet hier. Ein neues Leben wartet auf dich."

Anna wich einen Schritt zurück, Unsicherheit in ihren Augen. „Aber ich möchte nicht gehen. Nicht ohne meinen Bruder und ohne Lara."

Die Frau lächelte verständnisvoll und kniete sich vor Anna hin, sodass ihre Augen auf gleicher Höhe waren. „Du wurdest niemals vergessen und auch nicht verloren, Anna. Dein Bruder ist hier, bei dir, in deinem Herzen. Und Lara wird ihren eigenen Weg finden, so wie du deinen gefunden hast."

Tränen glitzerten in Annas Augen, als sie den Engel betrachtete. „Aber ich habe so lange gesucht. Ich will nicht alleine sein."

Der Engel nahm Annas Hände in ihre und drückte sie sanft. „Du wirst nie wieder alleine sein. Dort, wohin du gehst, wirst du Liebe und Frieden finden. Dein neues Leben wartet auf dich, voller Licht und Freude. Es ist Zeit, die Dunkelheit hinter dir zu lassen."

Anna sah Lara an, ihre Augen flehten um Verständnis. Lara fühlte einen Kloß in ihrem Hals aufsteigen, aber sie zwang sich zu lächeln. „Es ist in Ordnung, Anna", sagte sie leise. „Geh. Finde deinen Frieden. Du hast es verdient."

Anna zögerte noch einen Moment, dann nickte sie. Sie ließ die Hand des Engels nicht los, als sie zur Tür des Wagens geführt wurde, die sich lautlos öffnete. Ein blendendes Licht strömte herein, und Anna drehte sich ein letztes Mal zu Lara um.

„Danke", flüsterte sie. „Danke für alles."

Mit diesen Worten trat sie ins Licht hinaus, und der Engel folgte ihr. Die Tür schloss sich langsam hinter ihnen, und für einen Augenblick herrschte vollkommene Stille im Zug.

Lara starrte auf die geschlossene Tür, ihre Gedanken wirbelten in ihrem Kopf. Sie hatte Anna verloren, aber sie wusste, dass es das Richtige war. Anna hatte ihren Frieden gefunden, und das war alles, was zählte.

Aaron trat an ihre Seite und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Du hast das Richtige getan, Lara", sagte er sanft. „Anna hat ihren Weg gefunden. Und nun ist es an der Zeit, dass du deinen findest."

Lara nickte langsam, ihr Blick immer noch auf die Tür gerichtet, durch die Anna verschwunden war. „Ich hoffe nur, dass sie glücklich ist."

Aaron lächelte. „Das wird sie sein. Dort, wohin sie gegangen ist, gibt es keine Dunkelheit mehr. Nur Licht."

Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, und Lara lehnte sich in ihren Sitz zurück. Sie fühlte sich erschöpft, aber auch irgendwie erleichtert. Die Reise war noch nicht zu Ende, aber sie wusste, dass sie die Kraft hatte, weiterzumachen. Und egal, wohin der Weg sie führen würde, sie würde immer an Anna denken und daran, dass selbst in der tiefsten Dunkelheit das Licht nie ganz verschwand.


Nachdem die Tür des Wagens sich hinter Anna und dem Engel geschlossen hatte, blieben Lara und Aaron still stehen. Der Zug rollte langsam weiter, als ob er ihnen Zeit geben wollte, den Moment zu verarbeiten. Das helle Licht, in dem Anna verschwunden war, blendete noch immer durch die Fenster, und Lara spürte einen tiefen Drang in sich aufsteigen.

„Aaron," sagte sie leise, „lass uns die Fenster öffnen."

Aaron verstand sofort. Gemeinsam gingen sie zu den Fenstern des Wagens und schoben sie hinunter. Ein frischer, warmer Wind wehte ihnen entgegen, und das gleißende Licht draußen erfüllte die Luft mit einer sanften Wärme, die Lara tief in ihrer Seele spürte.

Lara lehnte sich aus dem Fenster, das Licht traf ihr Gesicht, und sie konnte kaum die Tränen zurückhalten, die in ihren Augen brannten. Sie suchte nach Anna, wollte sie ein letztes Mal sehen, bevor sie endgültig verschwand. Neben ihr tat Aaron dasselbe, und für einen Augenblick waren sie beide still, fasziniert von der Schönheit des Moments und dem tiefen Schmerz des Abschieds.

„Dort," flüsterte Aaron plötzlich und deutete auf einen Punkt in der Ferne.

Lara folgte seinem Blick und sah Anna. Sie war klein in der Distanz, eine winzige Silhouette, die im Licht verschwand, aber sie war da. Der Engel hielt sie an der Hand und führte sie in Richtung des Horizonts, wo das Licht noch heller schien.

Lara konnte den Blick nicht abwenden. Sie sah, wie Anna sich langsam entfernte, ihre kleinen Schritte immer entschlossener wurden. Sie wollte ihr zurufen, wollte ihr sagen, dass sie sie niemals vergessen würde, aber ihre Stimme versagte ihr. Stattdessen flossen die Tränen jetzt ungehindert über ihre Wangen.

Aaron legte eine Hand auf Laras Schulter, seine Augen ebenfalls fest auf Anna gerichtet. „Manchmal," sagte er leise, „ist der Abschied der schwerste Teil der Reise. Aber es ist auch der notwendige Schritt, um weitergehen zu können."

Lara nickte stumm, unfähig, Worte zu finden. Sie wusste, dass Aaron recht hatte, aber es machte den Schmerz des Abschieds nicht weniger intensiv. Anna war so viel mehr gewesen als nur eine Mitreisende; sie war ein Licht in der Dunkelheit, eine Erinnerung daran, dass selbst in den tiefsten Schatten Hoffnung bestehen konnte.

Sie beobachteten gemeinsam, wie Anna immer kleiner wurde, bis sie nur noch ein Punkt im endlosen Licht war. Und dann, mit einem letzten Aufblitzen, verschwand sie endgültig.

Lara blieb noch lange am Fenster stehen, auch nachdem Anna nicht mehr zu sehen war. Der Wind trocknete ihre Tränen, doch die Traurigkeit in ihrem Herzen blieb. Es war ein bittersüßer Moment, in dem sie wusste, dass Anna nun an einem besseren Ort war, aber dass sie sie niemals wiedersehen würde.

„Leb wohl, Anna," flüsterte sie schließlich in den Wind, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch. „Leb wohl."

Aaron zog das Fenster langsam wieder hoch, und der Zug rollte weiter, tiefer in die Schattenwelt hinein. Doch für Lara war die Welt um sie herum ein wenig heller geworden, auch wenn die Dunkelheit noch allgegenwärtig war. Sie wusste, dass sie stark genug war, um weiterzugehen, und dass Anna ihren Frieden gefunden hatte.

Als sie sich schließlich von dem Fenster abwandte und sich in ihrem Sitz zurücklehnte, spürte Lara eine neue Entschlossenheit in sich. Die Reise war noch nicht zu Ende, aber sie war bereit für das, was kommen würde. Und sie wusste, dass sie nie allein sein würde, denn Annas Licht würde immer in ihrem Herzen weiterleuchten.

Der Geisterzug „Schattenreise"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt