Kapitel 29: Das Angebot

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Der Zug kam mit einem leisen Quietschen zum Stehen. Lara spürte das ruckartige Anhalten und öffnete ihre Augen, die sie in den letzten Momenten geschlossen hatte, um die Veränderungen um sie herum besser zu verarbeiten. Durch das Fenster konnte sie die Silhouette eines kleinen Bahnhofs sehen, der von einem schwachen Lichtschein umgeben war. Der Bahnhof wirkte verlassen, als hätte schon lange niemand mehr hier Halt gemacht.

Lara sah sich um. Die anderen Passagiere schienen genauso überrascht wie sie selbst. Aaron jedoch schien gelassen. Sein Gesichtsausdruck verriet keine Spur von Überraschung oder Sorge. Er starrte still aus dem Fenster, als wüsste er genau, was gleich geschehen würde.

Plötzlich hörte Lara das Klicken von Absätzen auf dem steinigen Boden des Bahnhofs. Sie drehte ihren Kopf und sah, wie eine Gestalt in den Zug stieg. Es war ein Mann, gekleidet in einen eleganten Anzug, seine Gesichtszüge scharf und markant. Er strahlte eine ruhige Autorität aus, die den Raum um ihn herum auszufüllen schien. Seine Augen, tief und durchdringend, glitten durch den Waggon, bis sie auf Aaron trafen.

„Aaron," sagte der Mann mit einer tiefen, sonoren Stimme, die zugleich freundlich und fest klang. „Du hast deine Aufgabe seit Jahrhunderten mit unerschütterlicher Hingabe erfüllt. Deine Führung durch die Dunkelheit hat unzählige Seelen sicher zu ihrem Ziel gebracht."

Aaron nickte langsam, seine Augen waren weiterhin fest auf den Mann gerichtet. „Ich habe nur das getan, was notwendig war", antwortete er schlicht. „Es ist meine Aufgabe, den Verlorenen den Weg zu zeigen."

Der Mann trat einen Schritt näher an Aaron heran. „Ich bin hier, um dir ein neues Angebot zu machen," sagte er. „Etwas, das anders ist als alles, was du bisher getan hast. Etwas, das dein Leben und das Leben vieler anderer für immer verändern könnte."

Lara beobachtete die Szene aufmerksam, ihre Neugierde geweckt. Sie hatte Aaron immer als jemanden gesehen, der seine Rolle im Zug annahm und sein Leben dieser Aufgabe widmete. Doch nun schien es, als ob ihm eine völlig neue Perspektive eröffnet würde. Sie konnte nicht anders, als sich zu fragen, was dieses Angebot beinhalten könnte.

„Was für ein Angebot?" fragte Aaron schließlich, seine Stimme ruhig und abwartend.

Der Mann lächelte und streckte seine Hand aus, als ob er Aaron ein unsichtbares Geschenk anbieten würde. „Ich biete dir die Möglichkeit, ein ganzes Land zu regieren," sagte er leise. „Ein Land, das deine Fürsorge und deine Weisheit braucht. Ein Ort, an dem du mit deinem Wissen und deiner Erfahrung das Leben vieler Menschen beeinflussen kannst. Du würdest nicht mehr nur ein Führer für Seelen auf der Reise durch die Dunkelheit sein, sondern ein Herrscher, ein Beschützer und ein Verwalter von Leben und Schicksal."

Laras Augen weiteten sich bei diesen Worten. Sie hatte nie darüber nachgedacht, dass Aaron etwas anderes tun könnte als das, was er bisher getan hatte. Die Vorstellung, dass er plötzlich ein Land regieren sollte, schien ihr fast unwirklich. Doch als sie Aarons Gesicht betrachtete, sah sie eine seltsame Mischung aus Überraschung und Nachdenklichkeit.

Aaron schwieg eine lange Zeit, seine Gedanken schienen weit weg zu sein. Schließlich seufzte er leise und sah den Mann ernst an. „Das ist ein großes Angebot", sagte er langsam. „Aber warum ich? Warum sollte ich ein Land regieren, wenn es doch so viele andere gibt, die besser geeignet sind?"

Der Mann lächelte sanft, als ob er diese Frage erwartet hätte. „Weil du etwas hast, das viele andere nicht haben, Aaron. Du verstehst die Balance zwischen Licht und Dunkelheit. Du hast Mitgefühl, Weisheit und die Fähigkeit, zu führen, ohne zu herrschen. Das ist es, was ein guter Herrscher braucht. Und ich glaube, dass du der Richtige bist, um dieses Land zu führen."

Aaron schien die Worte des Mannes zu überdenken, und Lara konnte die Spannung in der Luft spüren. Sie fragte sich, ob Aaron dieses Angebot annehmen würde und was es für ihre Reise bedeuten könnte, wenn er es täte. Sie wusste, dass Aaron eine wichtige Rolle in ihrer Reise gespielt hatte, und sie konnte sich nicht vorstellen, wie es weitergehen würde, wenn er nicht mehr da wäre.

Nach einem Moment des Schweigens nickte Aaron schließlich. „Ich werde darüber nachdenken", sagte er ruhig. „Aber ich brauche Zeit, um diese Entscheidung zu treffen. Es ist keine leichte Aufgabe, die du mir anbietest."

Der Mann nickte verständnisvoll. „Natürlich, Aaron. Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Diese Entscheidung soll nicht überstürzt getroffen werden. Ich werde wiederkommen, wenn du bereit bist, mir deine Antwort zu geben."

Mit diesen Worten drehte sich der Mann um und verließ den Waggon so plötzlich, wie er gekommen war. Der Zug blieb einen Moment lang still stehen, als ob er die Bedeutung dieser Begegnung selbst verarbeiten müsste. Dann, ohne ein weiteres Geräusch, setzte er seine Fahrt fort, und die Weltengrenze verblasste hinter ihnen.

Lara sah Aaron an, der still aus dem Fenster starrte, seine Gedanken offensichtlich weit weg. Sie konnte nicht anders, als sich zu fragen, was er entscheiden würde und wie es ihre Reise beeinflussen würde. Doch in diesem Moment wusste sie, dass es besser war, ihm die Zeit zu lassen, die er brauchte. Manche Entscheidungen, dachte sie, konnten nicht überstürzt getroffen werden, besonders nicht in einer Welt wie dieser.

Der Geisterzug „Schattenreise"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt