Lara stand allein in der Finsternis. Sie konnte die Kälte auf ihrer Haut spüren, als wäre sie von einem unsichtbaren Nebel umgeben, der jede Wärme aus ihrem Körper sog. Um sie herum gab es nichts als Dunkelheit – eine Dunkelheit, die so tief und allumfassend war, dass sie den Eindruck hatte, sie könne sie mit den Händen greifen. Es war, als wäre sie in eine endlose Nacht hineingeraten, aus der es kein Entkommen gab.
Sie blickte zurück in die Richtung, in die der Geisterzug verschwunden war, doch die roten Lichter, die sie eben noch gesehen hatte, waren längst verblasst. Der Zug war fort, und mit ihm jede Hoffnung, dass sie sich in Sicherheit befand. Ein beklemmendes Gefühl kroch ihr in die Brust. Sie war gefangen in dieser Welt ohne Morgen, in einem Reich, in dem die Zeit stehengeblieben war.
Lara begann, ziellos umherzuwandern, ihre Schritte hallten leise auf dem unsichtbaren Boden wider. Sie konnte weder die Konturen von Gebäuden noch Bäume oder Hügel sehen – nur Dunkelheit, die sie umschloss. Die Luft war schwer und voller Düfte, die sie nicht identifizieren konnte, aber die eine seltsame Mischung aus Verfall und etwas Süßlichem bildeten.
Nach einer Weile blieb sie stehen. Etwas an diesem Ort schien nicht zu stimmen. Die Dunkelheit war nicht nur eine Abwesenheit von Licht, sie fühlte sich lebendig an, als würde sie sich um Lara herum bewegen und ihr nachstellen. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden. Ein leises Flüstern drang an ihre Ohren, kaum hörbar, aber es war da. Ein Raunen, das aus der Dunkelheit zu kommen schien und sich in ihrem Kopf festsetzte.
„Lara..."
Ihr Name. Jemand rief nach ihr. Sie drehte sich um, doch da war nichts. Niemand. Nur diese endlose Nacht.
„Lara..." Das Flüstern wurde lauter, dringlicher. Es schien von überall herzukommen und doch aus dem Nichts zu entstehen. Lara begann zu rennen, ohne ein Ziel zu haben, nur um diesem beklemmenden Gefühl zu entkommen. Sie rannte und rannte, doch die Dunkelheit wich nicht. Sie fühlte sich, als ob sie im Kreis lief, immer wieder dieselbe Strecke zurücklegte, ohne vorwärtszukommen.
Gerade als die Verzweiflung in ihr zu wachsen begann, erblickte sie ein schwaches Licht in der Ferne. Es war klein, kaum mehr als ein Funken, aber in dieser alles verschlingenden Dunkelheit wirkte es wie ein Leuchtfeuer der Hoffnung. Lara rannte darauf zu, ihre Beine schwer wie Blei, ihre Atmung flach und stoßweise. Sie spürte, wie ihre Kräfte nachließen, doch das Licht gab ihr neue Energie.
Als sie näher kam, erkannte sie, dass das Licht von einer Laterne stammte, die neben den Schienen hing. Die Schienen des Geisterzuges. Eine seltsame Erleichterung überkam sie, als sie die Vertrautheit der Eisenbahn erkannte. Die Schienen führten geradeaus in die Dunkelheit, und an ihnen entlang standen in regelmäßigen Abständen Laternen, deren Licht flackerte, als könnten sie jeden Moment erlöschen.
Lara folgte den Schienen, das Flüstern in ihrem Kopf wurde leiser, bis es schließlich ganz verstummte. Sie wusste nicht, wohin die Schienen führten, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie musste weitergehen. Sie musste einen Weg finden, um dieser Welt zu entkommen, in der die Zeit stillstand und die Nacht ewig währte.
Nach einer Weile hörte sie wieder das vertraute Geräusch – das leise, rhythmische Klackern von Schienen, auf denen ein Zug fuhr. Ihr Herz schlug schneller, und sie wusste, dass der Geisterzug zurückkam. Mit einem letzten Aufbäumen ihrer Kräfte lief sie den Schienen entgegen, das Licht der Laternen an ihrer Seite schien heller zu werden, als sie sich dem herannahenden Zug näherte.
Der Geisterzug tauchte wie aus dem Nichts vor ihr auf, seine dunklen Waggons gleiten lautlos über die Schienen. Er bremste ab und hielt genau vor ihr an. Die Türen des vordersten Waggons öffneten sich knarrend, und Lara spürte die kalte, unheimliche Luft, die aus dem Inneren strömte. Ohne zu zögern stieg sie ein.
Drinnen war alles unverändert. Dieselben abgenutzten Sitze, dieselben Lampen, deren Licht schwach und flackernd war. Doch diesmal war der Zug nicht leer. Da saßen Gestalten in den Sitzen, schemenhafte Figuren, die sich kaum von der Dunkelheit abhoben. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Körper regungslos, als ob sie in einem tiefen Schlaf gefangen wären.
Lara schluckte und ging langsam durch den Waggon. Irgendetwas sagte ihr, dass sie hier nicht bleiben sollte, dass dieser Zug sie noch weiter in die Dunkelheit bringen würde, als sie es sich je vorstellen konnte. Doch sie hatte keine andere Wahl. Sie musste herausfinden, was dieser Ort war und warum sie hierher gebracht worden war.
Sie erreichte das Ende des Waggons und öffnete die Tür zum nächsten Abteil. Dort fand sie den Mann im schwarzen Mantel, der auf sie wartete. Sein Gesicht war immer noch im Schatten verborgen, aber seine Augen leuchteten im schwachen Licht.
„Willkommen zurück", sagte er ruhig. „Du hast eine Entscheidung getroffen, Lara."
Lara zögerte. „Warum bin ich hier? Was ist dieser Ort?"
Der Mann lächelte schwach. „Du bist in der Schattenwelt, ein Ort zwischen den Welten, wo verlorene Seelen umherirren und die Zeit keine Bedeutung hat. Du bist hier, weil du nach Antworten gesucht hast, nach Geheimnissen, die vielleicht besser im Verborgenen bleiben sollten."
Lara schauderte. „Und jetzt? Was soll ich tun?"
„Jetzt", sagte der Mann und trat zur Seite, „musst du dich entscheiden, ob du weitergehst. Der Zug wird dich tiefer in das Reich der Dunkelheit bringen, wo du vielleicht die Antworten findest, die du suchst. Aber sei gewarnt: Nicht jeder, der diese Reise unternimmt, kehrt zurück."
Lara blickte auf den dunklen Gang, der sich vor ihr erstreckte. Eine unendliche Reihe von Waggons, die sich in die Finsternis verlor. Sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Sie musste weitermachen, weiter in die Schattenwelt, um die Wahrheit zu finden – was auch immer es kosten mochte.
Mit festem Schritt betrat sie den nächsten Waggon, bereit, sich dem zu stellen, was auch immer auf sie wartete. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, das vertraute Klackern der Schienen begleitete sie auf ihrer Reise tiefer in das Reich der Dunkelheit.
DU LIEST GERADE
Der Geisterzug „Schattenreise"
Horreur„Schattenreise" FSK 14/16 Willkommen in der Schattenwelt In einer Welt, in der die Grenze zwischen Leben und Tod verschwimmt, begibt sich Lara auf eine düstere Reise in einen mysteriösen Geisterzug. Was als unheimliches Abenteuer beginnt, entwickel...