Der Zug rollte durch die endlose Dunkelheit, doch diesmal war etwas anders. Lara spürte eine Veränderung in der Atmosphäre, als hätte die Luft um sie herum plötzlich an Gewicht gewonnen. Die Stille, die zuvor nur von dem gleichmäßigen Rattern der Räder unterbrochen worden war, schien nun von einer bedrückenden Schwere erfüllt zu sein, als würde etwas Großes, Unausweichliches bevorstehen.
Lara schaute zu Aaron hinüber, der neben ihr saß. Seine Augen waren nachdenklich und ernst, und ein tiefes Seufzen entwich seinen Lippen. „Es ist soweit", murmelte er leise, als ob er mit sich selbst sprach.
„Was meinst du?", fragte Lara verwirrt. „Was ist soweit?"
Aaron wandte sich zu ihr und seine Miene war voller Trauer, gemischt mit einer gewissen Entschlossenheit. „Das Jüngste Gericht", antwortete er. „Die Welt, die du kennst, steht am Rande eines unausweichlichen Urteils. Die Zeit für diejenigen, die auf der Erde geblieben sind, ist gekommen. Ihre Taten werden nun gewogen und gemessen."
Lara spürte, wie eine kalte Welle der Angst ihren Rücken hinaufkroch. „Das Jüngste Gericht...", wiederholte sie. „Was bedeutet das? Was wird mit ihnen geschehen?"
Aaron sah hinaus in die Dunkelheit, als ob er durch die endlosen Schatten hindurch auf etwas weit Entferntes blicken könnte. „Das Jüngste Gericht ist ein Moment der Wahrheit für alle Seelen auf der Erde", erklärte er. „Es ist die Zeit, in der jede Tat, jeder Gedanke und jedes Gefühl ins Licht gebracht wird. Die Gerechten werden belohnt, und die, die in Dunkelheit lebten, werden vor die Konsequenzen ihrer Taten gestellt."
Lara schluckte schwer. „Und was wird mit denen passieren, die nicht bereit sind?"
„Diejenigen, die nicht bereit sind, werden den Preis für ihre Unwissenheit zahlen", sagte Aaron mit ernster Stimme. „Doch das Jüngste Gericht ist nicht nur eine Bestrafung. Es ist auch eine Chance zur Läuterung, zur Umkehr. Jede Seele bekommt die Möglichkeit, die Wahrheit zu erkennen und sich zu entscheiden, was sie daraus macht."
Der Gedanke an das Jüngste Gericht warf einen langen Schatten auf Laras Herz. Sie dachte an die Menschen, die sie zurückgelassen hatte, an ihre Freunde, ihre Familie. Waren sie bereit für das, was kommen würde? Hatten sie die Wahrheit in ihrem Leben gefunden, oder würden sie von der Dunkelheit verschlungen?
„Kann ich ihnen helfen?", fragte Lara schließlich, ihre Stimme voller Verzweiflung. „Kann ich irgendetwas tun, um sie zu retten?"
Aaron schüttelte sanft den Kopf. „Das ist nicht deine Aufgabe, Lara. Deine Reise ist eine andere. Diejenigen, die auf der Erde geblieben sind, müssen ihren eigenen Weg finden, so wie du deinen gefunden hast. Manchmal bedeutet Liebe, loszulassen und darauf zu vertrauen, dass die, die du liebst, ihren eigenen Weg gehen werden."
Lara fühlte sich hilflos, als sie diese Worte hörte. Sie wollte nichts mehr, als zu denen zurückzukehren, die sie liebte, ihnen beizustehen und sie durch diese Dunkelheit zu führen. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass Aaron recht hatte. Jeder musste seinen eigenen Weg gehen, musste seine eigenen Entscheidungen treffen und die Konsequenzen tragen.
„Was wird mit uns passieren?", fragte sie schließlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Werden wir auch gerichtet werden?"
Aaron sah sie an, seine Augen voller Mitgefühl. „In gewisser Weise ja, aber nicht auf die gleiche Weise. Wir sind bereits auf einer Reise der Erkenntnis, der Reflexion. Das, was wir hier erleben, ist unsere Form des Gerichts. Wir stellen uns unseren eigenen Ängsten, unseren eigenen Taten, und finden unseren Weg durch die Dunkelheit. Aber ja, am Ende wird auch für uns ein Urteil fallen. Ob es ein Urteil der Verurteilung oder der Erlösung ist, liegt in unseren Händen."
Lara nickte, unsicher, was sie dazu sagen sollte. Die Schwere seiner Worte hing in der Luft, und sie fühlte, wie sie in ihre Gedanken sanken und sich dort festsetzten.
Der Zug fuhr weiter, und bald sah Lara durch das Fenster, wie die Dunkelheit vor ihnen zu weichen begann. In der Ferne konnte sie schwaches, pulsierendes Licht sehen, das in der Dunkelheit flackerte. Es schien wie ein Leuchtfeuer, das die Finsternis durchdrang und den Weg zu etwas Neuem wies.
„Das Licht...", sagte sie leise. „Ist das das Ende der Reise?"
Aaron schüttelte den Kopf. „Nein, es ist nur ein weiterer Schritt. Ein weiteres Kapitel. Aber es bedeutet, dass wir uns dem Ende der Dunkelheit nähern. Und das bedeutet, dass die Zeit für das Jüngste Gericht gekommen ist."
Lara atmete tief durch, versuchte, sich zu beruhigen. Sie wusste, dass die Reise noch nicht zu Ende war, dass noch viele Herausforderungen auf sie warteten. Doch sie wusste auch, dass sie nicht allein war, dass sie stark war und dass sie sich allem stellen konnte, was vor ihr lag.
„Dann lasst uns weiterfahren", sagte sie schließlich, ihre Stimme fester, als sie es erwartete. „Lasst uns herausfinden, was das Licht für uns bereithält."
Aaron nickte, und ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen. „So sei es", sagte er leise, und der Zug fuhr weiter, immer weiter, auf das Licht zu, das in der Dunkelheit schimmerte, ein Zeichen der Hoffnung inmitten von Ungewissheit und Furcht.
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Der Geisterzug „Schattenreise"
Horror„Schattenreise" FSK 14/16 Willkommen in der Schattenwelt In einer Welt, in der die Grenze zwischen Leben und Tod verschwimmt, begibt sich Lara auf eine düstere Reise in einen mysteriösen Geisterzug. Was als unheimliches Abenteuer beginnt, entwickel...