Kapitel 24: Das Tor der Wahrheit

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Der Zug fuhr mit zunehmender Geschwindigkeit in die Dunkelheit hinein, als ob er genau wusste, wohin er wollte. Lara konnte das Knistern der Schienen unter den Rädern spüren und das leise, aber beharrliche Summen, das durch die Luft drang. Sie schaute zu Aaron, der ruhig am Fenster stand und in die endlose Finsternis hinausblickte.

„Sind wir bald da?" fragte Lara, unsicher, was sie erwarten sollte.

Aaron nickte langsam, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. „Ja, wir nähern uns dem Tor der Wahrheit. Halte dich bereit, Lara. Dies wird ein intensives Erlebnis, besonders für Anna."

Lara sah zu Anna hinüber, die still neben ihr saß. Ihre kleinen Hände waren fest ineinander verkrampft, und ihre Augen waren vor Erwartung weit geöffnet. Lara spürte, wie eine Mischung aus Aufregung und Sorge durch sie hindurchströmte. Sie wollte Anna beistehen, egal was kam.

Plötzlich begann der Zug zu bremsen. Ein tiefes, unheilvolles Kreischen erfüllte die Luft, als die Räder auf den Schienen quietschten und Funken sprühten. Dann, mit einem letzten Ruck, kam der Zug zum Stehen. Eine gespenstische Stille senkte sich über die Passagiere.

Vor ihnen, am Ende der Schienen, erhob sich das Tor der Wahrheit. Es war ein gewaltiges, massives Portal aus glänzendem Metall, das in der Dunkelheit schimmerte. Seltsame Symbole und Muster waren in seine Oberfläche eingraviert, und ein schwaches, pulsierendes Licht schien von innen zu kommen.

„Das ist es", flüsterte Aaron und wandte sich an Anna. „Bist du bereit?"

Anna nickte, ihre Augen fest auf das Tor gerichtet. „Ja, ich bin bereit."

Langsam öffnete sich das Tor, und ein gleißendes Licht strömte heraus, das den gesamten Zug erhellte. Es war so hell, dass Lara die Augen zusammenkneifen musste, um nicht geblendet zu werden. Sie spürte eine plötzliche Wärme auf ihrer Haut und hörte ein leises Summen, das immer lauter wurde.

Dann, ganz plötzlich, wurde die Welt um sie herum klar und deutlich. Sie befanden sich nicht mehr im Zug, sondern in einer offenen, weiten Ebene, die von goldenem Licht durchflutet war. Vor ihnen erstreckte sich eine Szene, die so lebendig war, dass es fast wie ein Traum wirkte.

Anna stand allein inmitten dieser Ebene, ihre Augen weit aufgerissen. Vor ihr erschien eine Reihe von Bildern, wie Fragmente eines längst vergangenen Lebens. Lara sah, wie sich Annas Gesicht veränderte, als sie auf diese Bilder blickte.

Sie sah ihre Eltern, ein liebevolles Paar, das sie in den Armen hielt und beschützte. Sie sah ihren Bruder, einen Jungen mit leuchtenden Augen, der sie zum Lachen brachte und immer für sie da war. Sie sah ihr Zuhause, ein kleines, aber gemütliches Haus, das von grünen Hügeln umgeben war.

Dann änderte sich das Bild. Die friedliche Szene verschwand, und stattdessen sah Anna eine düstere, graue Stadt, die von Rauch und Feuer durchzogen war. Sie sah Menschen, die in Panik durch die Straßen rannten, Soldaten in schwarzen Uniformen, die durch die Menge marschierten und Schrecken verbreiteten.

Laras Herz setzte einen Schlag aus, als sie erkannte, was Anna erlebte. Es war der Große Krieg, der alles verändert hatte. Sie sah, wie Anna und ihre Familie versuchten, zu fliehen, aber sie wurden gefangen genommen, von Männern in schwarzen Uniformen, die sie in ein Lager brachten.

Anna sah ihr junges Ich, wie es verzweifelt um seine Eltern und seinen Bruder weinte, wie es in der Kälte und Dunkelheit der Gefangenschaft litt. Sie sah die unzähligen Tage, die sie in Angst und Schmerz verbrachte, bis zu dem Moment, als ihr Leben abrupt endete.

Tränen liefen über Annas Gesicht, als sie diese schrecklichen Erinnerungen sah. Doch sie sah sie mutig an, weigerte sich, wegzuschauen. Sie wusste, dass dies ein Teil von ihr war, ein Teil ihrer Geschichte.

Dann, als das letzte Bild verblasste, sah Anna sich selbst, wie sie jetzt war. Ein kleines Mädchen, verloren in der Dunkelheit, aber stark und tapfer. Sie atmete tief durch und sagte mit zitternder Stimme: „An den Namen meines Bruders kann ich mich immer noch nicht erinnern, aber ich weiß, wer ich bin."

Lara fühlte, wie eine Welle der Erleichterung durch sie strömte. Anna hatte die Wahrheit über sich selbst gefunden, hatte die Dunkelheit ihrer Vergangenheit akzeptiert und war bereit, weiterzumachen. Sie trat näher an Anna heran und nahm ihre Hand.

„Du hast es geschafft, Anna", sagte sie leise. „Du hast die Wahrheit gefunden."

Anna sah Lara mit tränenverschleierten Augen an, doch sie lächelte. „Ja", flüsterte sie. „Ich weiß, wer ich bin. Und ich werde meinen Bruder finden, egal was es kostet."

Aaron trat vor und nickte zufrieden. „Gut gemacht, Anna. Du hast den ersten Schritt gemacht, um deine Reise zu beenden. Und nun, da du deine Identität kennst, können wir weitergehen."

Das Licht begann zu verblassen, und langsam kehrten sie in den Zug zurück. Die goldene Ebene verschwand, und die Dunkelheit der Schattenwelt nahm wieder ihren Platz ein. Doch dieses Mal fühlte sich die Dunkelheit nicht mehr so bedrohlich an. Sie war nicht mehr verloren; sie wusste, wer sie war, und das gab ihr die Kraft, weiterzumachen.

Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, und die Reise ging weiter. Anna hielt Laras Hand fest, und gemeinsam sahen sie in die Zukunft, bereit für das, was noch kommen würde.

Der Geisterzug „Schattenreise"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt