Der Zug ratterte weiter durch die finstere Schattenwelt, und Lara saß noch immer benommen auf dem kalten Boden des Waggons. Ihr Körper schmerzte, die Wunden ihrer letzten Prüfung brannten in ihrer Erinnerung nach. Sie sah sich um und bemerkte, dass die anderen Passagiere weiterhin in einem tiefen, traumlosen Schlaf verharrten. Der Mann im schwarzen Mantel war verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst.
Das Rattern des Zuges wurde plötzlich lauter, bedrohlicher, als ob die Dunkelheit selbst versuchte, in den Waggon einzudringen. Die Luft schien sich zu verändern; sie wurde schwer und heiß, erfüllt von einem fauligen, schwefeligen Geruch. Lara spürte eine prickelnde Kälte, die ihren Rücken hinunterlief, als der Zug abrupt zu einem schrecklichen Kreischen und Ruckeln kam.
Dann hörte sie es – ein tiefes, unheilvolles Grollen, das von irgendwoher aus der Dunkelheit kam. Es war kein gewöhnliches Geräusch; es war ein Geräusch, das von einem Wesen stammte, das nicht von dieser Welt war. Ein Dämon. Ein unheimliches Knurren, das die Luft zerriss und die Wände des Waggons erbeben ließ.
Laras Herzschlag beschleunigte sich, ihr Atem ging schneller. Sie fühlte, wie das Blut in ihren Adern zu Eis gefror. Die anderen Passagiere erwachten nicht, blieben starr und regungslos, als der Dämon sich näherte. Die Fenster des Zuges begannen zu klirren, als ob sie unter dem Druck von außen zu zerbersten drohten.
„Lara!", ertönte plötzlich die Stimme des Mannes im schwarzen Mantel hinter ihr. Sie drehte sich hastig um und sah, wie er durch die flackernden Schatten auf sie zukam. „Der Dämon ist auf der Suche nach dir. Er wird diesen Zug auseinanderreißen, um dich zu bekommen. Es gibt nur eine Möglichkeit, ihn zu besänftigen."
„Was soll ich tun?", rief Lara verzweifelt, als das Rumpeln lauter und drängender wurde.
Der Mann deutete auf ihr Handy und ihre Kleidung – moderne, auffällige Markenklamotten, die im grellen Gegensatz zu den dunklen, alten Abteilen des Zuges standen. „Diese Dinge haben keinen Platz in der Schattenwelt. Sie sind Zeichen einer Welt, die hier nicht existieren darf. Du musst sie loswerden."
Lara starrte ihn an, ungläubig. „Mein Handy und meine Kleidung? Wie soll das helfen?"
„Der Dämon hasst alles, was nicht zu dieser Welt gehört. Solange du diese Gegenstände bei dir trägst, wird er dich verfolgen. Wirf sie aus dem Fenster, und vielleicht lässt er dich in Ruhe."
Lara zögerte, doch das ohrenbetäubende Knurren des Dämons wurde immer lauter, und die Fenster begannen zu zerspringen, kleine Risse zogen sich durch das Glas. Sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Mit zitternden Händen zog sie ihr Handy aus der Tasche. Es fühlte sich seltsam fremd an in ihren Fingern, als ob es ein Relikt aus einer anderen Zeit wäre. Sie ging zum Fenster und warf es hinaus, in die tiefe Dunkelheit, die draußen wartete.
Das Knurren verstummte für einen Moment, als ob der Dämon überrascht wäre. Doch es kehrte schnell zurück, noch lauter und drohender als zuvor. „Das reicht nicht!", schrie der Mann. „Alles muss weg!"
Lara sah an sich hinunter und spürte, wie ihr Magen sich verkrampfte. Sie zog ihre teure Jacke aus und warf sie ebenfalls aus dem Fenster, dann folgten ihr T-Shirt, ihre Jeans und ihre Schuhe. Stück für Stück ließ sie all ihre modernen Besitztümer los und sah zu, wie sie in die Dunkelheit fielen. Sie zögerte einen Moment, als sie in Unterwäsche dastand, doch der Mann im schwarzen Mantel deutete eindringlich auf die letzte Schicht. Sie wusste, dass der Dämon nicht nachlassen würde.
Mit einem letzten tiefen Atemzug zog sie ihre Unterwäsche aus und warf sie ebenfalls aus dem Fenster. Der Dämon stürzte sich auf die Kleidungsstücke, die in die Tiefe fielen. Sie sah, wie die Dunkelheit draußen sich zu bewegen begann, als ob sie lebendig wäre, und hörte das grausame Kreischen des Dämons, als er die Sachen verschlang. Ein Gefühl des Ekels durchströmte sie, aber auch eine seltsame Erleichterung.
Der Zug schien ruhiger zu werden. Das Knurren wurde schwächer, und die Wände des Waggons hörten auf zu beben. Die Gefahr schien vorüber zu sein, zumindest für den Moment.
„Gut gemacht", sagte der Mann im schwarzen Mantel, als er auf sie zutrat. „Aber du kannst so nicht bleiben."
Er griff in eine alte Truhe, die plötzlich am Ende des Waggons aufgetaucht war, und zog ein einfaches Kleid aus Leinen hervor, das aussah, als wäre es aus einer anderen Epoche, aus dem frühen 1900er-Jahren. Es war grob und schlicht, ohne jeden Schmuck, aber es war sauber und trocken. Lara nahm es dankbar entgegen und zog es über.
Das Kleid fühlte sich rau auf ihrer Haut an, völlig anders als die weichen Stoffe, an die sie gewöhnt war. Es war schwer und ungewohnt, und doch verspürte sie eine seltsame Art von Sicherheit, als ob es sie vor der Dunkelheit um sie herum schützen könnte.
„Warum muss ich das tragen?", fragte sie den Mann, als sie sich das Kleid enger zog.
„Du musst dich an diese Welt anpassen", antwortete er ruhig. „Moderne Dinge haben hier keinen Platz. Diese Welt verlangt Respekt, und das bedeutet, dass du dich ihren Regeln beugen musst. Nur so kannst du überleben."
Lara nickte, auch wenn sie noch immer fröstelte. Sie konnte spüren, dass der Dämon noch immer irgendwo draußen lauerte, in der Dunkelheit, die den Zug umgab. Er war nicht weg – nur besänftigt. Für jetzt.
„Und was kommt als Nächstes?", fragte sie, ihre Stimme zitterte leicht vor Furcht.
Der Mann im schwarzen Mantel lächelte schwach, und in seinen Augen lag ein seltsames Leuchten, als ob er etwas wusste, das sie noch nicht verstand. „Der Zug fährt weiter, Lara. Es gibt noch viele Prüfungen, die auf dich warten. Aber sei gewiss, jede Entscheidung, die du triffst, führt dich näher zu deiner Bestimmung. Bereite dich vor, denn die Schattenwelt ist noch lange nicht fertig mit dir."
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zurück in die Dunkelheit des Waggons, verschwand, als ob er nie da gewesen wäre. Lara stand alleine da, das einfache Kleid eng um sich gewickelt, und spürte, wie der Zug wieder an Fahrt aufnahm.
Sie wusste, dass sie stark bleiben musste, dass sie sich auf das Kommende vorbereiten musste. Die Schattenwelt hatte sie noch lange nicht freigegeben, und der Zug führte sie immer tiefer in die Dunkelheit – und in das Unbekannte.
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Der Geisterzug „Schattenreise"
Horror„Schattenreise" FSK 14/16 Willkommen in der Schattenwelt In einer Welt, in der die Grenze zwischen Leben und Tod verschwimmt, begibt sich Lara auf eine düstere Reise in einen mysteriösen Geisterzug. Was als unheimliches Abenteuer beginnt, entwickel...