Kapitel 4: Die Weltengrenze

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Der Zug fuhr schneller, und das monotone Klackern der Schienen verwandelte sich in ein dröhnendes Donnern, das den gesamten Waggon erfüllte. Lara klammerte sich an die Lehne eines Sitzes, während der Zug durch die Schattenwelt raste. Die Dunkelheit draußen schien noch undurchdringlicher zu werden, als ob sie in eine tiefere Ebene der Finsternis eintauchten.

Das flackernde Licht der Lampen an der Decke war das Einzige, was Lara Orientierung gab. Die Schemen der anderen Passagiere, die wie in einem unendlichen Schlaf gefangen waren, wurden zu verzerrten Schatten, deren Umrisse sich in den Wänden des Waggons spiegelten. Lara hatte das Gefühl, dass die Realität selbst begann, sich zu verbiegen, als ob die Gesetze von Raum und Zeit hier nicht mehr galten.

Plötzlich spürte sie eine Veränderung. Ein schwerer Druck legte sich auf ihre Brust, und die Luft wurde dünn, fast unbrauchbar. Es war, als ob eine unsichtbare Kraft den Zug zurückzudrängen versuchte, eine Barriere, die sich ihnen in den Weg stellte und sie von ihrem Weg abhielt.

Der Mann im schwarzen Mantel trat aus dem Schatten. Er stand am Ende des Waggons und sah sie mit seinen durchdringenden Augen an. „Wir nähern uns der Weltengrenze", sagte er mit ruhiger, fast feierlicher Stimme. „Dies ist ein Ort, an dem die Ordnung des Universums geschützt wird. Kein Lebender soll ihn jemals überschreiten."

Lara spürte einen Knoten in ihrem Magen. „Die Weltengrenze? Was ist das?", fragte sie, obwohl sie spürte, dass sie die Antwort vielleicht gar nicht wissen wollte.

„Es ist der Ort, an dem die Grenzen zwischen den Welten am dünnsten sind", erklärte der Mann. „Ein Ort, der geschaffen wurde, um zu verhindern, dass Seelen in Bereiche gelangen, die für sie nicht bestimmt sind. Hier wird die Balance zwischen Leben und Tod, Raum und Zeit, Licht und Dunkelheit gewahrt."

Der Zug begann zu rütteln und zu vibrieren, als würde er gegen eine unsichtbare Wand prallen. Die Lichter flackerten wild, und ein tiefes Grollen erfüllte den Waggon, als ob die Dunkelheit selbst in Wut aufbrüllte. Lara konnte spüren, wie eine überwältigende Furcht ihren Körper durchdrang. Es war nicht nur die Angst vor dem Unbekannten – es war eine Urangst, eine Furcht vor etwas, das jenseits ihrer Vorstellungskraft lag.

„Halte dich fest!", rief der Mann, und kaum hatte er die Worte ausgesprochen, spürte Lara einen gewaltigen Ruck, der sie fast von den Füßen riss. Der Zug schien gegen eine unsichtbare Kraft zu kämpfen, die versuchte, ihn zurückzudrängen. Die Fenster des Waggons begannen zu knistern und zu zerbrechen, als ob sie dem Druck von außen nicht mehr standhalten konnten. Lara duckte sich und hielt sich verzweifelt an einem Sitz fest, während Glassplitter durch die Luft flogen.

„Was passiert hier?", schrie sie, ihre Stimme kaum hörbar im ohrenbetäubenden Lärm um sie herum.

„Die Grenze wehrt sich", antwortete der Mann. „Nur diejenigen, die wirklich dazu bestimmt sind, können sie überwinden."

Plötzlich spürte Lara eine unerträgliche Hitze, als würde der ganze Waggon in Flammen stehen. Die Hitze war so intensiv, dass sie meinte, ihre Haut würde verbrennen, und sie konnte kaum atmen. Sie schloss die Augen und schrie auf, doch inmitten dieses Chaos wurde alles auf einmal still.

Als sie die Augen wieder öffnete, fand sie sich in einer anderen Umgebung wieder. Der Zug stand still, die Türen waren weit geöffnet, und draußen erstreckte sich eine unheimliche Landschaft, die aussah wie ein endloses Labyrinth aus schwarzen Felsen und wirbelnden Nebeln. Es war ein Ort, der jeglicher Logik zu trotzen schien – die Wände des Labyrinths waren hoch und scharfkantig, die Gänge schienen sich ständig zu verändern und zu bewegen, als wären sie lebendig. Die Luft war schwer und mit einem seltsamen, schwefeligen Geruch erfüllt.

„Willkommen an der Weltengrenze", sagte der Mann im Mantel, der jetzt neben ihr stand. „Dies ist der furchtbarste Ort, den es gibt, ein Ort, der die Seelen prüft und nur die Stärksten durchlässt."

Lara trat zögernd aus dem Zug und spürte sofort den unwirklichen Boden unter ihren Füßen. Es fühlte sich an, als würde sie auf etwas Festem stehen, und doch konnte sie sehen, dass es unter ihr kein Ende gab, nur ein bodenloser Abgrund aus Schwärze.

„Du musst weitergehen", sagte der Mann. „Dies ist eine Prüfung. Die Grenze erlaubt nur jenen den Durchgang, die den Mut haben, sich ihren eigenen Ängsten zu stellen."

Lara nickte, auch wenn sie noch immer zitterte. Sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Sie musste durch diese seltsame und beängstigende Welt gehen, um die Wahrheit zu finden und einen Weg zurück zu ihrer eigenen Welt zu finden.

Sie machte einen Schritt in das Labyrinth, und sofort schloss sich der Eingang hinter ihr. Die Nebel um sie herum wurden dichter, und die Dunkelheit schien sie wie eine Decke zu umhüllen. Doch sie ging weiter, Schritt für Schritt, entschlossen, die Grenze zu überwinden und das Geheimnis dieser finsteren Welt zu ergründen.

Je tiefer sie in das Labyrinth vordrang, desto mehr spürte sie die Präsenz von etwas Unbekanntem, das sie beobachtete. Es war eine Präsenz, die sie nicht sehen konnte, die aber in jedem Schatten, in jedem Windhauch und in jedem Flüstern des Nebels lauerte. Sie wusste, dass sie hier nicht allein war. Etwas, oder jemand, wartete auf sie, tief in diesem Labyrinth, und es würde nicht zögern, sie zu testen.

Der Weg vor ihr begann sich zu verändern, als die Wände des Labyrinths sich verschoben und neue Wege auftauchten. Jeder Schritt, den sie machte, schien sie tiefer in eine Welt zu führen, in der die Naturgesetze, wie sie sie kannte, nicht mehr galten.

Plötzlich hörte sie das Geräusch von Schritten, die hinter ihr durch das Labyrinth hallten. Sie drehte sich um, doch da war niemand. Das Geräusch kam näher, als würde jemand – oder etwas – ihr folgen.

„Wer ist da?", rief Lara, doch ihre Stimme verhallte in der Stille.

Ein leises, hämisches Lachen drang durch den Nebel. Es war ein Lachen, das ihre Knochen erzittern ließ, voller Bosheit und Spott.

„Du hast keine Ahnung, was du hier suchst, nicht wahr?", flüsterte eine Stimme, die aus der Dunkelheit kam.

Lara wirbelte herum, doch da war niemand. „Zeig dich!", forderte sie, obwohl ihre Stimme vor Angst bebte.

Das Lachen wurde lauter, hallte durch die Wände des Labyrinths, und Lara spürte, wie ihr Herz raste. Sie wusste, dass dies die Prüfungen waren, von denen der Mann gesprochen hatte. Prüfungen, die sie zwingen würden, sich ihren tiefsten Ängsten zu stellen.

„Wenn du weitergehst", sagte die Stimme, „musst du bereit sein, alles zu verlieren."

Lara wusste, dass sie keine Wahl hatte. Mit einem letzten Blick zurück in die Dunkelheit, in der der Zug verschwunden war, setzte sie ihren Weg fort, entschlossen, die Grenze zu überwinden und das Geheimnis dieser furchtbaren Welt zu entschlüsseln. Die Dunkelheit um sie herum schien lebendig zu werden, und das Lachen verstummte, als die Stille der Weltengrenze sie wieder umfing.

Der Geisterzug „Schattenreise"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt