Kapitel 8: Das kleine Mädchen

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Lara saß zurückgelehnt in ihrem Sitz, ihre Augen starrten in die Dunkelheit des Waggons, während ihre Gedanken in einem endlosen Strudel von Angst und Erschöpfung kreisten. Der Zug fuhr unaufhaltsam weiter durch die Schattenwelt, sein monotones Rattern war der einzige Klang in der stillen, kalten Nacht. Ihre Gedanken flossen immer wieder zu der Müdigkeit, die schwer auf ihr lastete. Sie wusste, dass sie nicht schlafen durfte, nicht in dieser Welt, in der der Tod und das Unbekannte immer nur einen Herzschlag entfernt waren.

Plötzlich hörte sie ein leises Schluchzen, kaum mehr als ein Wispern in der Dunkelheit. Es war so leise, dass sie sich nicht sicher war, ob sie es sich nur einbildete. Aber da war es wieder – ein leises, herzzerreißendes Weinen. Lara spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten, und sie schaute vorsichtig um sich.

Ganz hinten im Waggon, halb verborgen im Schatten, entdeckte sie eine kleine Gestalt. Lara stand auf, ihre Beine fühlten sich schwer und steif an, und sie ging langsam in die Richtung des Geräuschs. Ihre Schritte waren leise, fast lautlos auf dem kalten Boden des Waggons, und je näher sie kam, desto klarer wurde das Weinen.

In einer Ecke, zusammengekauert und zitternd, saß ein kleines Mädchen. Ihre Kleidung war zerfetzt und schmutzig, und ihre blonden Haare waren verfilzt und hingen ihr strähnig ins Gesicht. Tränen liefen über ihre Wangen, und sie hielt ihre Hände schützend vor sich, als wollte sie sich vor etwas Unsichtbarem schützen.

„Hey", sagte Lara leise, kniete sich vor das Mädchen und versuchte, beruhigend zu klingen. „Keine Angst, ich bin Lara. Wer bist du?"

Das Mädchen schaute erschrocken auf, ihre Augen waren rot und geschwollen vom Weinen. Sie sah Lara mit einer Mischung aus Angst und Hoffnung an. „Ich... ich bin Anna", stotterte sie. „Mein Bruder ist verschwunden. Ich kann ihn nicht finden."

Lara spürte einen Stich in ihrem Herzen. Sie wusste, dass die Schattenwelt ein grausamer Ort war, besonders für Kinder. „Wie heißt dein Bruder?", fragte sie sanft und legte eine Hand auf Annas Schulter.

„Er heißt Max", antwortete Anna und schniefte. „Er war bei mir, aber dann kam dieser böse Mann. Er hat uns Angst gemacht, und Max ist weggelaufen. Ich habe ihn überall gesucht, aber ich konnte ihn nicht finden. Ich habe mich hier versteckt, damit der böse Mann mich nicht findet."

Lara spürte eine kalte Welle der Angst in sich aufsteigen. Ein böser Mann, der sich im Zug herumtrieb, klang nicht nach einer harmlosen Gefahr. „Kannst du mir sagen, wie der Mann aussah?", fragte sie vorsichtig.

Anna nickte langsam, ihre Augen waren weit aufgerissen vor Angst. „Er hatte einen schwarzen Mantel und einen Hut, und seine Augen... sie waren so kalt. Er hat mich angestarrt, und ich habe mich so gefürchtet. Er hat gesagt, er sucht nach verlorenen Seelen."

Lara fühlte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Die Beschreibung passte zu dem Mann, den sie zuvor im Zug getroffen hatte, aber etwas in Annas Worten ließ sie erschaudern. War es möglich, dass es mehr als einen solchen Mann hier gab? Oder war der Mann im schwarzen Mantel nicht das, was er zu sein schien?

„Hör zu, Anna", sagte Lara entschlossen und drückte sanft die Schulter des Mädchens. „Wir müssen deinen Bruder finden, und dafür müssen wir zusammen stark sein. Bleib ganz nah bei mir, okay? Wir werden ihn finden."

Anna nickte wieder, diesmal etwas fester, und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ihres zerrissenen Kleides ab. „Okay", sagte sie leise. „Aber bitte lass mich nicht allein."

„Keine Sorge, ich lasse dich nicht allein", versicherte Lara und stand auf, half Anna auf die Beine. „Wir bleiben zusammen, egal was passiert."

Gemeinsam gingen sie langsam durch den Waggon, Lara hielt Annas Hand fest in ihrer. Ihre Augen suchten die Dunkelheit ab, jede Ecke und jeden Schatten, in der Hoffnung, Max zu finden oder zumindest einen Hinweis darauf, wohin er verschwunden sein könnte. Der Zug schien unendlich lang, jeder Waggon ein neuer Abschnitt in einem endlosen Labyrinth.

Plötzlich hörte Lara ein weiteres Geräusch, ein dumpfes Poltern, das von einem der hinteren Waggons zu kommen schien. Sie blieb stehen und hob eine Hand, um Anna zum Schweigen zu bringen. „Hörst du das?", flüsterte sie.

Anna nickte, ihre Augen waren vor Angst weit geöffnet. „Das ist er", flüsterte sie zurück. „Der böse Mann."

Lara spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, aber sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Sie musste herausfinden, wer oder was dieser Mann war und ob er etwas mit Max' Verschwinden zu tun hatte. „Bleib hinter mir", sagte sie zu Anna und ging vorsichtig weiter in Richtung des Geräuschs.

Der nächste Waggon war noch dunkler als der letzte, die Fenster waren verschmiert und ließen kaum Licht durch. Lara spürte, wie ihre Nerven angespannt waren, jede Faser ihres Körpers war auf Alarmbereitschaft gestellt. Sie ging langsam voran, ihre Augen durchsuchten die Schatten nach dem kleinsten Anzeichen von Bewegung.

Plötzlich tauchte aus dem Dunkeln eine Gestalt auf. Es war ein Mann, ganz in schwarz gekleidet, sein Gesicht war im Schatten seines Hutes verborgen. Seine Augen blitzten kalt auf, als er Lara und Anna erblickte.

„Ihr habt hier nichts verloren", sagte er mit einer Stimme, die so eisig war, dass Lara ein Schauer über den Rücken lief. „Diese Welt ist nicht für euch bestimmt."

„Was hast du mit Max gemacht?", rief Anna plötzlich, ihre Stimme zitterte vor Angst und Wut. „Wo ist mein Bruder?"

Der Mann lachte, ein leises, böses Kichern, das in der Stille widerhallte. „Der Junge hat bekommen, was er verdient. Er gehört jetzt zu uns, wie alle verlorenen Seelen."

Laras Herz sank. Sie wusste nicht, was das bedeutete, aber sie wusste, dass sie Anna und sich selbst schützen musste. „Lass uns in Ruhe", sagte sie fest und versuchte, keine Angst in ihrer Stimme zu zeigen. „Wir wollen nur den Zug verlassen."

Der Mann trat einen Schritt vor, seine Augen blitzten gefährlich. „Es gibt keinen Ausweg aus der Schattenwelt", sagte er mit einer Stimme, die wie ein eisiger Wind klang. „Ihr gehört jetzt hierher, für immer."

Lara spürte, wie Panik in ihr aufstieg, aber sie wusste, dass sie stark bleiben musste. Sie drückte Annas Hand fester und zog das kleine Mädchen hinter sich. „Lauf!", rief sie und rannte los, den Gang des Waggons entlang, fort von dem Mann und seiner bedrohlichen Präsenz.

Sie hörte Annas leise Schluchzer hinter sich, aber sie wusste, dass sie nicht stehen bleiben durfte. Sie mussten einen Weg finden, diesen Alptraum zu überleben und einen Ausweg aus der Dunkelheit zu finden.

Doch während sie rannte, spürte Lara, wie die Schatten um sie herum dichter wurden, wie die Dunkelheit sie einhüllte und die Welt um sie herum in einem endlosen, schwarzen Nichts verschwand.

Der Geisterzug „Schattenreise"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt