Nein, nein! Bitte nicht!
Ich schrie, aber meine Worte waren nicht zu hören. Kein Ton kam aus meiner Kehle. Dann ein Knall. Die Tür. Sie war zugeschlagen. Und ich war allein im Keller.
Schweißgebadet fuhr ich empor.
Nein, bitte nicht.
Nicht allein in diesem pechschwarzen Keller.
Doch ein Lichtschein blendete mich. Verwirrte blinzelte ich um mich herum.
Das war nicht der Keller. Und es war auch nicht dunkel.
Ein Lichtschein fiel durch den Spalt der dunklen Vorhänge in das Zimmer hinein und erhellte einen in die Jahre gekommenen Holztisch, einen grünlichen Samtsessel und einen uralten TV. Ich war in unserem Hotelzimmer.
Erleichtert seufzte ich auf, auch wenn mein Körper weiterhin vor Angst bebte.
„Alles in Ordnung, Babe?" Caleb richtete sich besorgt neben mir auf.
Ich zog die schlotternden Knie zu mir. Obwohl eine warme Daunendecke meinen Körper bedeckte, zitterte er wie Espenlaub.
„Jaja", gab ich verunsichert zurück.
Ich musste mich beruhigen. Ich war in Sicherheit.
„Hattest du einen Alptraum?" Caleb musterte mich eindringlich.
Ich nickte. „Aber nichts wildes ..." Es war die Hölle gewesen, aber ich wollte nicht, dass er sich sorgte.
„Sicher? Du siehst ganz schön blass aus." Er stieß mich sanft an.
Unwohl zog ich mich weiter zusammen. Wie lange hatte ich diese Träume nicht mehr gehabt? Das letzte Mal musste gewesen sein, bevor ich Caleb kennengelernt hatte.
„Trink mal ein Glas Wasser." Er deutete zu dem Nachttisch neben mir.
Mit tauber Hand langte ich nach dem Glas, bemüht nicht zu schlabbern.
Ich nahm einen Schluck. Es ging tatsächlich besser.
„Nimmt dich alles ganz schön mit, ne?" Calebs Worte wurden von einem Gähnen begleitet.
„Ich glaube, ich muss noch einmal zu dem Haus." Mit klammen Fingern stellte ich das Glas zurück. Diese Träume durften nicht wiederkommen. Ich musste sie im Keim ersticken. Sie hätten mich damals beinahe in eine Schlaftablettenabhängigkeit getrieben. Einmal angefangen, war es jede Nacht schlimmer geworden. Trotz Licht im Flur und obwohl ich nie allein gewesen war.
Ich musste mich mit dem konfrontieren, was unten im Haus auf mich lauerte. Meinem jahrelangen nächtlichen Gefängnis.
„Okay, willste doch noch was mitgehen lassen?" Caleb grinste träge.
Ich schüttelte vehement den Kopf. Nichts wollte ich von diesem Ort.
„Haben wir ja auch jetzt gar nicht mehr nötig." Erneut gähnte Caleb. „Wir können ja Nachmittag mal in den alten Schuppen. Nach dem Spruch von dieser Halima bin ich schon mal gespannt, was das fürn Schlösschen ist, in dem du aufgewachsen bist."
Ich schluckte. Caleb wusste, dass mein Großvater uns streng erzogen hatte. Allerdings wusste er nicht alles. Natürlich konnte ich ihm seine saloppe Art nicht verdenken. Ich hatte ihm nie die Chance gegeben, es zu verstehen. Und auch jetzt wollte ich es ihm nicht mitteilen. Es war wie eine dünne Mauer zwischen uns. Hauchdünn und doch unüberwindbar.
Mit einem Seufzen schob ich die Decke weg. „Ich denke, ich möchte jetzt direkt hin."
Ein Stöhnen war zu hören. „Können wir nicht noch etwas schlafen. Es ist mega früh."
Ich musste schmunzeln. „Es ist neun Uhr."
„Ja, sag ich ja."
Liebevoll lächelte ich ihn an. „Dann schlaf ruhig noch etwas. Ich schaffe das schon allein."
Caleb grinste und kuschelte sich wieder in sein Bett. „Okidoki, Babe. Das lass ich mir nicht zweimal sagen. Und vielleicht gibt's ja doch noch eine schicke antike Taschenuhr, die aus Versehen in deine Tasche purzelt."
Ich schlug auf die Decke, die seinen Hintern bedeckte.
Ein Lachen war zu hören.
Dann erhob ich mich und machte mich fertig.༺❀༻
Keine Stunde später stand ich in der Eingangshalle des Hauses aus meinen Alpträumen. Meinem ehemaligen Zuhause.
Es war beklemmend wie immer. Dabei hatten wir fast Mittag und die Sonne strahlte, ohne dass ein Wölkchen sie behinderte. Hier drinnen hingegen war es kühl. Ich war fasziniert, wie der Architekt es geschafft hatte, die Kälte so perfekt zu konservieren und zudem noch alle Fenster so zu platzieren, dass sie möglichst viel Licht draußen hielten.
Beim Blick in den Flur wurde mir mulmig zumute. Bevor ich mit meiner Konfrontationstherapie startete, zog es mich zuerst an einen sicheren Ort.
Auf leisen Sohlen schlich ich die Treppe empor und den Flur entlang. Vor der Tür angekommen, nahm ich einen tiefen Atemzug. Langsam drückte ich die Klinge runter.
Es knarzte vertraut.
Die Tür schob sich auf und gab den Blick frei auf das Innere. Zum ersten Mal, seit ich hier war, machte sich ein heimeliges Gefühl breit.
Es war mein Zimmer. Mein Zufluchtsort.
Ich trat ein paar Schritte hinein. Es war noch immer so, wie ich es zurückgelassen hatte. Lediglich eine Strickjacke, die über meinen Schreibtischstuhl gehangen hatte, war weggeräumt worden. Ob Großvater wohl gedacht hatte, ich würde zurückkehren.
Ich musste leise lachen. Nein, wahrscheinlich war er einfach viel zu beschäftigt gewesen, um das Zimmer räumen zu lassen. Bei der Größe des Hauses und der Vielzahl an Räumen, war dieses Zimmer ohnehin zu unbedeutend. So wie ich es für ihn gewesen war.
Ich strich über das Holz des Tisches. Eine feine Staubschicht lag auf dieser. Gedankenversunken malte ich ein M hinein. Gefolgt von drei weiteren Buchstaben.
Mari.
Dieser Ort war wie ein sicherer Hafen gewesen. Mein sicherer Hafen. Ich sah zu dem Bett. Dieses war noch immer mit meiner Bettwäsche von damals bezogen. Fein säuberlich gefaltet lag die helle Decke auf dem Laken. Ob Yuna dies noch getan hatte. Ich fragte mich, was aus ihr geworden war. Ohne Kinder gab es keinen Grund für ein Kindermädchen. Allerdings war sie am Ende immer mehr zu einer Haushälterin geworden. Wer weiß, wie viel ihr Großvater geboten hatte, um weiter hier zu arbeiten. Und zu schweigen.
Während mein Blick auf dem Bett ruhte, fiel mir etwas auf. In der Ecke neben dem Kissen lag ein kleiner zotteliger Bär.
Miau.
Kurz wunderte ich mich. Ich war mir sicher, ihn damals in dem Gästezimmer in die hinterste Ecke einer Kommode gepfeffert zu haben. Jemand musste ihn rausgefischt und an seinen angestammten Platz zurückgebracht haben.
Ein Grinsen legte sich auf mein Gesicht, als ich das kleine Plüschtier in die Hand nahm.
Ich zauderte nicht lange. Ob es jetzt Diebstahl oder Unterschlagung war, keine Ahnung. Kieran hatte ihn mir damals geschenkt. Er gehörte mir. Und deshalb purzelte er blitzschnell in meine Tasche.
Augenblicklich fühlte ich mich etwas mutiger. Mutig genug, mich dem zu stellen, was unten wartete.
Ohne zu zögern, lief ich aus meinem alten Zimmer hinaus. Kurz streiften meine Augen die weitere Tür auf meinem Weg. Doch ich würde diese nicht öffnen. Ich hatte nicht mehr das Recht dazu. Und ich musste das Thema Kieran endlich ruhen lassen. Fast schon rennend eilte ich die Treppe hinunter.
Bei der Tür, die in den Keller führte, blieb ich stehen. Der Moment der Wahrheit. Eine stille Hoffnung keimte in mir auf. Vielleicht war dies die Konfrontation, die ich brauchte. Wenn ich mich all dem stellte, würde sich vielleicht ein Schalter in meinem Kopf umlegen und ich könnte das alles endlich hinter mir lassen.
Mit festem Griff drückte ich die Klinge hinunter. Sofort zog sich mein Brustkorb zusammen.
Ich knipste das Licht an.
Erinnerungen schossen hoch, wie ich mich an dem Türrahmen, an dem Treppengeländer ... an ihm festgehalten hatte.
Jedes Mal.
Jedes Mal hatte ich geschrien.
Jedes Mal hatte ich geweint.
Und jedes Mal war ich trotzdem in diesem Raum gelandet.
Doch ich war nicht mehr die kleine Marisol. Und den Mann, der mich hierunter geschleift hatte, gab es nicht mehr. Es war helllichter Tag. Ich würde das schaffen.
Das Treppengeländer umklammernd schritt ich hinunter. Ich bemerkte, wie mein Puls mit jeder Stufe emporschnellte. Doch ich musste ihn kontrollieren. Ich musste all das in den Griff bekommen.
Die letzte Stufe.
Mein Herz hämmerte im staccato und meine Kehle wurde staubtrocken.
Ich sah die Tür, aber alles in meinem Körper schrie sofort wieder danach hinaufzurennen.
Ich musste stark sein ...
Auf wankenden Beinen schritt ich voran, zwang mich die Tür anzusehen.
Erschrocken hielt ich inne.
Sie stand einen Spalt offen.
Kalter Schweiß brach mir aus, als meine Augen das Innere erspähten.
Augenblicklich wurde mir speiübel. Ich hatte das Gefühl mich übergeben zu müssen, obwohl ich nichts gegessen hatte.
Mein Herz jagte das Blut in einem Tempo durch meine Adern, das mir schwindelig wurde.
Blanke Panik fegte über mich hinweg.
Ich konnte das nicht. Ich konnte keinen einzigen Schritt weitergehen. Ich musste hier weg.
Sofort.
Begleitet von einem trockenen Husten rang ich nach Luft und stolperte nach oben.
Weg, weg, schrie es in meinem Kopf. Verzweifelt versuchte mein Bewusstsein die aufstoßenden Erinnerungen zu unterdrücken.
Hoffnungslos.
Ich hatte meinen Mut verloren.
Atemlos kam ich oben an und schlug augenblicklich die Tür hinter mir zu. Auch wenn es albern war, aber unten lauerte etwas. Da war ich mir sicher. Und die geschlossen Tür gab mir kurz das Gefühl, dass es mir nicht folgen konnte. Das Dunkle. Die Angst.
Wobei ich insgeheim wusste, dass es nicht unten war. Es haftete an mir, hatte sich bereits in meinem Kopf, in meinem ganzen Körper eingenistet. Und ich hatte panische Angst es nie wieder loszuwerden. Für einen Moment überlegte ich Caleb anzurufen. Aber wie sollte er diesen Wahnsinn verstehen. Ich würde ihm erklären müssen, was passiert war. Aber das konnte ich in diesem Moment nicht.
Ich musste hier weg. Ich musste irgendwohin, wo es hell war.
Der Salon schoss es mir durch den Kopf.
Eiligen Schrittes lief ich in den einzigen Raum, der im Gegensatz zu allen restlichen Zimmern wenigstens das Gefühl vermittelte, ein wenig Licht und Wärme aufnehmen zu wollen.
Für mehrere Minuten stand ich wie angewurzelt in der Mitte des Salons und ließ die sachte hineinscheinenden Sonnenstrahlen auf meine Füße und mein Gesicht fallen. Langsam beruhigten sich meine Atmung und mein Puls wieder. Doch setzen wollte ich mich nicht. Ich musste etwas tun. Etwas, das mich aus diesem Gedankenstrudel herausreißen würde.
Mein Blick fiel zu dem Klavier. Wie lange hatte ich nicht mehr gespielt?
Nach meiner Flucht damals hatte ich nebenbei ein paar Klavierstunden gegeben, um über die Runden zu kommen. Begnadet war ich nicht. Aber für ein paar Basics und blutige Anfänger reichte es.
Ich lief zu dem Flügel. Bevor ich mich setzte, tippte ich mit den Fingern sachte auf ein paar Tasten. Zu meiner Verwunderung war es jedoch nicht verstimmt.
Gedankenversunken ließ ich mich nieder, als mein Blick auf den leeren Platz neben mir fiel. Wie automatisch hatte ich mich so hingesetzt, dass das Polster neben mir freiblieb. So oft hatte Kieran sich früher dazugesellt und mein Spiel begleitet oder vielmehr übernommen. Aber er war nicht hier und vielleicht war es an der Zeit, von alten Gewohnheiten abzulassen.
Ein wenig selbstbewusster rückte ich in die Mitte des Schemels und versuchte ein paar Melodien aus dem Gedächtnis zu spielen.
Ab und an schlug ich daneben, aber nach einer Weile klang es deutlich besser. Und es machte mir tatsächlich Spaß. War es früher eine Qual gewesen und mit einem Gefühl verbunden, ohnehin nicht gut genug zu sein, hatte das ziellose Klimpern jetzt etwas Erleichterndes an sich. Es zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht. Für einen Moment kam mir sogar der skurrile Gedanke, Kieran zu fragen, ob er mir den Flügel überlassen könnte. Er hatte ihn ja nicht gewollt. Und für ein aus Versehen in die Tasche purzeln lassen, war er wohl zu groß.
Ich musste bei dem Gedanken kichern.
Nach ein paar weiteren Takten packte mich der Ehrgeiz. Aus einem der hohen Regale zog ich ein Notenbuch. Erneut setzte ich mich mitten auf den Schemel und probierte mich in an dem Stück.
Es war wie ein Sog. Die Musik zog mich mit sich, echote durch jede meiner Zellen und vertrieb all die dunklen Erinnerungen.
Nein, sie verdrängte sie nicht, sie ließ sie frei. All die Gefühle von Angst und Trauer flossen durch meine Finger auf die Tasten. Es war wie ein Ventil, ein wenig wie beim Fußball spielen.
Ließ ich dort den Stress und Frust raus, konnte ich hier all die schlimmen Erinnerungen davongleiten lassen.
Federleicht wie damals tanzten meine Finger über die Klaviatur. Ein warmes Gefühl des Glücks kitzelte mein Inneres, während ich einfach spielte und nicht einmal mehr auf das Notenblatt schauen musste. Wie in einen Traum versank ich in die Melodie, die mich Stück für Stück hinfort trug. Und doch war ich lange nicht mehr so präsent gewesen, so fokussiert auf die Bewegung meiner Finger und die Tasten vor mir.
Urplötzlich spürte ich jemanden dicht hinter mir. Ich wurde beobachtet.
Doch der kurze Schreck verpuffte schnell, denn die Wärme und der Duft verrieten mir sofort, um wen es sich handelte. Wahrscheinlich wäre es ratsam aufzuhören und mich zu ihm umzudrehen, aber ich konnte nicht. Noch nicht.
Zu lange hatte ich nicht mehr gespielt und das Stück war noch nicht vorbei.
Einen Moment verharrte er hinter mir. Dann ließ er sich nieder auf die gepolsterte Klavierbank, dicht hinter mir.
Kurz hatte es mich aus dem Takt gebracht, als ich den stählernen Körper hinter mir wahrnahm. Keine zwei Sekunden später spürte ich, wie seine kraftvollen Oberschenkel meine zusammenpressten. Eingeklemmt saß ich zwischen seinen Beinen und spürte seinen Oberkörper im Rücken, ohne dass er diesen berührte. Sachte vernahm ich seine wie immer lautlose Atmung.
Sein herber Geruch umhüllte mich und umschloss mich wie die Wärme seines Körpers. Es war so vertraut und ein leiser Part sehnte sich danach, mich dieser Vertrautheit entgegenzulehnen, los und mich fallen zu lassen.
Doch so einfach machte ich es ihm nicht. Ich ließ mich nicht ablenken, drängte dieses ohnehin falsche Verlangen zurück. Stattdessen vertiefte ich mich weiter in die komplexen Notenabfolgen, die einander abwechselten.
Mit einem Mal erklang ein donnernder Ton. Nein, es waren gefühlt ein Dutzend. Zusammen, aufeinander folgend. Da bemerkte ich die beiden kräftigen Hände, die sich zu meinen auf die Klaviatur begeben hatten. Doch während meine Fingerspitzen wie eine Katze auf den Tasten entlangschlichen, war sein Spielanschlag viel schneller. Der Klang übertönte meinen fast gänzlich, drängte meine sachte gespielten Noten in den Hintergrund. Er bestimmte das Spiel wie immer.
Aber so leicht ließ ich mich nicht beiseiteschieben. Mit geübten Griffen arbeitete ich die Akkordfolge ab, um dann einen Vorstoß in die tieferen Töne, in seinen Bereich vorzunehmen. Aber Kieran erahnte mein Vorhaben und noch bevor ich meinen kleinen Ausbruch vornehmen konnte, kamen seine Finger meinen zuvor, drängten mich zurück. So ging es immer wieder. Ich versuchte meine Abfolgen zu variieren, ihn auszutricksen, zu überrumpeln. Aber jedes Mal hinderte er mich und wies meine Finger zurück in ihre Schranken. Er dominierte das Stück, wie mittlerweile alles hier in diesem Haus.
Ich war verdammt. Verdammt dazu, die Hintergrundmusik zu spielen, die Unbedeutende in seiner Musik und mittlerweile auch in seinem Leben. Ein leiser Anflug von Zorn glomm in mir auf. Wenn er mich schon nicht spielen ließ, wie ich es wollte, konnte ich wenigstens auf dem Part, den er mir gnädigerweise überließ, ebenfalls die Anschlaggeschwindigkeit erhöhen. Auch wenn man die vorherige Abstimmung unserer Melodien, piano und forte, zweifelsohne als harmonischer hätte empfinden können, brachte die neue Lautstärke und Intensität meines Spiels einen berauschenden Schwung in die Sache. Nicht nur das Spiel, auch seine Schenkel, die dicht an mich gepresst waren und seine Arme, die meine wie zufällig berührten, sorgten für eine knisternde Erregtheit zwischen meinen Beinen. Ich spürte, wie sich durch das immer schneller werdende Spiel ein feiner Schweißfilm auf meiner Stirn bildete. Für einen Moment fühlte es sich an, als würden wir beide um unser Leben spielen. Wobei nein, ich spielte um mein Leben. Er spielte um Kontrolle. Wie immer ... wobei nein, letzteres war neu.
Die Abfolgen bauten aufeinander auf, liefen immer deutlicher auf einen Höhepunkt hinaus. Gerade meinte ich, fühlte ich, dass dieser bevorstünde, als Kierans Finger sich von den Tasten lösten.
Ehe ich mich versah, rasten sie auf meine nieder. Roh schlugen sie sie in die Tasten. Ein fürchterliches, tiefes Tongemisch erklang und ging mir durch Mark und Bein. Er hatte es beendet.
Wie ein Schraubstock umkrallten seine Hände meine und pressten sie noch immer auf die Tasten, die mucksmäuschenstill blieben.
Warm und rau spürte ich seine Bartstoppeln, die meine Wange streiften, als er den Kopf ganz leicht nach vorne lehnte. Wieder der berauschend vertraute Duft, der mich umnebelte. Es sollte mich stören. Er sollte mich stören.
Aber da lag das Problem. Seine Nähe störte mich nie. Im Gegenteil ...
Sein Kopf vergrub sich in meiner Halskuhle.
Für einen flüchtigen Moment meinte ich seine Lippen an der empfindlichen Haut spüren zu können. Sofort legte sich ein feiner Schauer über meinen Körper und sorgte dafür, dass sich die feinen Härchen auf meinen Armen aufstellten. Es war anders als in der Bar. Näher, intensiver. Zu intensiv ...
„Das ist falsch ...", flüsterte ich und faltete unwohl meine Finger auf der Klaviatur, ohne jedoch einen Ton zu verursachen. In dem Moment war ich eine Maus und keine Katze.
„Warum?" Etwas Drohendes hatte sich in seine tenore Stimme gelegt. Nach diesem Klaviersturm war jedes Wort wie ein Donnerschlag in der Stille.
Er scherzte wohl.
Ich wollte meinen Kopf drehen, aber er ließ mich nicht, hielt jede meiner Bewegungen in Schach.
Hoffnungslos legte ich meinen Kopf in den Nacken und sackte ein Stück zurück.
Es gab einen Grund. Einen sehr gewichtigen sogar und bestimmt tausend unwichtige.
„Warum hast du mich hier allein gelassen?", entließ ich die Worte in die Leere. Von all den Gründen wahrscheinlich der weniger bedeutende. Aber er quälte mich noch immer am meisten.
Kieran hob seinen Kopf und seine Lippen streiften kurz meine Ohrmuschel, als er mit einem bedauernden Ton knurrte: "Ach Mari."
„Warum bist du nicht zu mir zurückgekommen?" Ich starrte wieder nach vorne auf das Heft. Auch wenn ich keine einzige Note erkennen konnte.
Doch statt einer Antwort war plötzlich ein lauter Knall zu hören.
Ich schreckte zusammen.
Kieran hatte den Deckel des Klaviers hinabschnellen lassen. Meine gefalteten Finger, die noch auf den Tasten geruht hatten, hatte er mit einem Ruck weggezogen. Ich hatte es gar nicht wahrgenommen. Zu versunken war ich in den alten quälenden Fragen. Und in seiner Nähe. In den Bann, in den er mich zog.
Ich betrachtete meine Hände in seiner. Wie klein und zerbrechlich sie in diesen wirkten. Kein Wunder, dass er Rachmaninov und Co immer besser gemeistert hatte als ich.
Ich konnte mich nicht der Vorstellung erwehren, was diese grobe und doch so feinfühlige Hand mit mir anstellen würde.
Vertieft in den Anblick ließ ich meinen Zeigefinger sanft über seinen Daumen streichen. Es war so falsch und doch fühlte es sich wie damals so richtig an.
Kaum merklich lehnte ich mich ein Stück gegen ihn. Seine Arme umfingen mich und er drückte mich an sich.
„Komm mit mir mit", raunte seine dunkle Stimme und ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut. Sofort begann ein Kribbeln meinen Unterleib zu durchziehen. Ein leiser Zweifel keimte jedoch auf. Doch er wurde in dem Augenblick zerschmettert, als ich etwas Hartes gegen mein Steißbein spürte. Prompt pochte mein Herz aufgeregt und das aufgeregte Ziehen zwischen meinen Beinen verstärkte sich.
Ich wandte den Kopf zu ihm und sah in seine sengenden Augen. Er war mir so nah und ich hatte ihn so sehr vermisst.
Kurz glitt mein Blick zu seinen Lippen. Ich wollte nichts mehr, dass diese sich auf meine legten. Aber das schlechte Gewissen folgte auf dem Fuße.
„Wir sind verheiratet", wisperte ich.
„Sind wir das?" Ein Necken hatte sich in seine Augen geschlichen. Wie ich dieses liebte.
Aber leider war es dieses Mal unpassend. Wie so oft.
„Kieran", mahnte ich.
Er seufzte. „Strenggenommen bist du verheiratet, ja."
„Ja, und du verlobt. Das ist ... nicht in Ordnung."
Er löste seine feste Umarmung und es versetzte mir prompt einen Stich.
„Nichts, was sich nicht klären ließe", kam es kurz angebunden zurück.
„Du würdest Lilia verlassen?", entfuhr es mir entsetzt.
Kieran sah mich mit einem misstrauischen Blick abwägend an. „Du würdest deinen Partner nicht verlassen?"
„Doch." Sofort biss ich mir auf die Unterlippe. Fickscheiße. Das war viel zu schnell aus mir herausgeschossen.
Ein triumphierendes Lächeln zierte Kierans Lippen. „Wir könnten ein paar Sachen zusammenpacken, das Erbe ausschlagen und einfach abhauen. Für immer weg. Gemeinsam."
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. „Wenn es so einfach wäre."
„Was macht es schwer?"
„Na, alles." Ich löste mich ebenfalls ein Stück und deutete auf alles um uns herum. „Wir haben die letzten Jahre keinen Ton miteinander geredet." Ich sah ihn ernst an. „Und ich ... du hast dich damals nicht mehr gemeldet. Ich verstehe das immer noch nicht."
Kierans Blick wurde hart. „Ich habe dir doch die Situation erklärt."
Verzweifelt rang ich nach Worten. „Ja, aber du hättest doch wenigstens eine Nachricht schreiben können. Irgendetwas. Ich verstehe das nicht. Auch dass du über meinen Kopf hinweg entschieden hast, dass es besser sei, keinen Kontakt zu haben. Warum plötzlich? Nach all den Jahren ..."
Mit einem Mal wich er von mir und erhob sich. Wie ein dunkler Schatten baute Kieran sich vor mir auf. Es war ein immenser Kontrast zu dem warmen Licht, das von draußen hinein und auf sein perfektes Gesicht fiel.
Doch genau dieses rief jetzt Unwohlsein in mir hervor. Das war nicht Kieran. Es war sein Gesicht, aber der Ausdruck, der auf diesem lag, gehörte jemand anderen. Jemand, der es in diesem Haus geliebt hatte, zu bestrafen.
Ich verharrte auf der Klavierbank und blickte zu ihm hinauf.
„Ich habe alles dazu gesagt, was es zu sagen gibt. Wenn dir das nicht genügt, kann ich dir auch nicht mehr weiterhelfen."
Für einen Augenblick war ich gewillt, seinen Worten – so unglaubwürdig sie auch klangen – zu glauben. Aber ich kannte ihn zu lange. Und ja, mochte sein, dass er sich verändert hatte und ich mich auch. Aber ich sah für einen kurzen Moment in dem Himmelblau etwas aufblitzen. Verzweiflung. Blinde und alles einnehmende Verzweiflung.
Er log.
„Du verschweigst etwas", entfuhr es mir.
So schnell es gekommen war, verschwand das Blitzen wieder.
„Gar nichts tue ich. Du siehst wie immer Gespenster."
Doch ich gab nicht auf und erhob mich nun ebenfalls. „Was ist los, Kieran? Was verschweigst du?" Auch wenn es nicht unbedingt sensibel war, konnte ich nicht anders. „Wieder."
Das Wort klang wie eine Peitsche. Und sie zeigte Wirkung. Leider.
„Ich sagte doch: nichts. Ich habe so etwas die Schnauze voll von dieser Rumfragerei. Erst von Lilia, jetzt auch noch von dir." Das Himmelblau schlug in puren Frost rum.
„Du hast Recht. Es ist nicht einfach. Und falsch." Seine Arme verschränkten sich.
„Was soll das heißen?", fragte ich verwirrt.
„Dass du hier nicht mehr willkommen bist."
„Wie bitte?" Ich verstand den plötzlichen Sinneswandel nicht.
„Marisol", mahnte er und ein boshaftes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Altbekannt, wenn auch nicht von ihm.
„Du hast mich schon verstanden, meine Liebe. Du bist verheiratet, ich verlobt. Mag sein, dass wir uns damals näherstanden, aber seitdem ist viel Zeit vergangen. Und vielleicht hattest du schon immer Recht damit, dass das zwischen uns falsch ist. Also freu dich über deine frühe Erkenntnis und verlass dieses ... verlass mein Haus."
Seine Worte schnitten tief. Aber ich wollte mir meine Verletztheit nicht anmerken lassen. Bemüht kontrolliert griff ich nach meiner Tasche und streifte sie über meine Schulter. Mit schnellen Schritten lief ich zur Tür.
„Das war das letzte Mal, dass ich dich hier gesehen habe." Er grinste falsch. „Außer zur Beerdigungsfeier. Da bist du natürlich herzlich willkommen."
Ich drehte mich um und sah zu dem hochgewachsenen Mann neben dem Flügel. Er dominierte den Raum, wie ... wie Großvater es damals getan hatte. Und er wusste es.
Hatte der alte Mann es also doch geschafft und seine Krallen in Kieran reingeschlagen. Tränen schossen in meine Augen. Mein Kieran. Mein Kieran, der nicht mehr da war.
„Keine Sorge", presste ich hervor. „In diese Hölle, die sich kein Stück verändert hat, will ich ohnehin nicht mehr."
Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, lief ich davon. Wie konnte man an einem Tag nur so viel verlieren.
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Echoes in Time
RomanceMit acht Jahren wird Marisol adoptiert und zieht in das alte, riesige Herrenhaus der Familie Delorean ein. Dort erwartet sie nicht nur ein neuer Großvater, sondern auch Stiefbruder. Kieran, der Junge in ihrem Alter, zeigt ihr unmissverständlich, das...