Kapitel 27

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„Albert Charles Barnaby Montgomery Delorean war ein Mensch, dessen großzügiges Herz und tiefes Engagement für seine Mitmenschen unauslöschliche Spuren in unserer Gemeinschaft hinterlassen haben. Ob es um Spenden für wohltätige Zwecke ging, die er regelmäßig und oft tätigte, oder um die unzähligen Stunden, die er am Schreibtisch für ehrenamtliche Projekte verbrachte – Albert Delorean war stets zur Stelle, wenn jemand Hilfe brauchte.
Er war nicht nur ein großzügiger Mensch, sondern ein Förderer von Projekten und Initiativen, die das Leben vieler Menschen nachhaltig verändert haben. Seine Liebe zu Kindern und zu den kommenden Generationen war tief verwurzelt in seiner Überzeugung, dass wir alle eine Verantwortung füreinander tragen. Lasst uns also nicht nur in Trauer, sondern auch in Dankbarkeit an ihn denken. Dankbar dafür, dass wir das Privileg hatten, ihn zu kennen, und dankbar dafür, dass seine Taten der Güte und Großzügigkeit auch in Zukunft weiterwirken werden."
Der Priester blickte mildtätig in die Gemeinde, die sich unisono erhob, und stimmte das nächste Lied an.
Es war eine Farce. All das hier. Mochte sein, dass er die Gemeinde mit Spenden überschüttet hatte, aber im Privaten war er ein Monster gewesen.
Meine Fingerknöchel stachen mittlerweile weiß hervor, während ich das Gesangsbuch umklammert hielt. Ich wusste eh nicht, in welcher Strophe, geschweige denn Zeile wir uns befanden. Zum wiederholten Male schnellte mein Blick zu Kieran. Er saß in der Bank neben unserer, ebenfalls in der vordersten Reihe. Während Lilia mit Tränen in den Augen andachtsvoll mitsang, schwieg Kieran und starrte auf den Altar. Oder daran vorbei. Sein Blick war seit Beginn des Trauergottesdienstes ungerührt an eine Stelle gehaftet.
Ich blickte wieder in mein Gesangsbuch. Ein Hauch von Sorge keimte in mir auf. Auch wenn er seine emotionslose Maske aufgesetzt hatte, wusste ich, dass es darunter anders aussehen musste. Wahrscheinlich brodelte es in ihm genauso wie in mir gerade.
Wobei ich mir nach unserem letzten Aufeinandertreffen nicht mehr sicher sein konnte. Der Mann, den ich kannte, hatte sich verändert. Vielleicht war er auch gänzlich und unwiderruflich verschwunden. Tot wie der Mann, der im Sarg neben dem Altar ruhte und doch auf widerliche Weise weiterlebte. Nicht in seinem Körper, sondern in deren jener, die er gequält hatte.
Die letzten Takte des Kirchenliedes verklangen und wir durften uns wieder setzen.
Der Priester trat nach vorne und faltete seine Hände. „Bevor wir nun weiter im Gottesdienst fortfahren, möchte ich denjenigen, die noch ein paar Worte über Herrn Delorean sagen möchten, die Gelegenheit geben, dies zu tun. Wenn jemand von Ihnen einen trostspendenden Gedanken, eine Erinnerung oder eine Abschiedsbotschaft teilen möchte, so lade ich Sie herzlich ein, jetzt nach vorn zu kommen und zu sprechen."
Ich zuckte zusammen.
Augenblicklich spürte ich, wie sich die Augenpaare nach vorne richteten. Zu Kieran und mir.
Schweigen.
Mal davon abgesehen, dass ich nichts vorbereitet hatte, würde mir wahrscheinlich eh kein trostspendendes Wort einfallen. Von Erinnerungen, die ich teilen wollte, ganz zu schweigen.
Ein Raunen erklang.
Es machte keinen guten Eindruck.
Hilfesuchend wollte ich zu Kieran schauen, aber dafür waren zu viele Augenpaare auf uns gerichtet. Ich spürte, wie meine Hand zuckte. Jemand würde etwas sagen müssen. Ich würde etwas sagen müssen, da ich die unangenehme Spannung kaum mehr aushielt.
Langsam hob sich meine Hand.
„Ja, bitte", sprach der Priester freundlich.
Ich ließ sie wieder sinken und blinzelte überrascht zur Seite. Er hatte nicht mich gemeint. Jemand war mir zuvorgekommen.
Kieran erhob sich und Lilia tatschälte seinen Arm, als wolle sie ihn loben.
Bestimmt schritt er die beiden Stufen empor und wandte sich zu uns.
Für einen Moment streifte sein Blick meinen, aber er wandte ihn rasch ab.
„Es ist nicht leicht, Worte zu finden." Kierans Kiefer zuckte.
Der Priester stellte sich neben ihn. „Wohl wahr, mein Sohn."
Kieran legte ein Lächeln auf, verhalten, aber auf eine bestimmte Art provozierend. Ich kannte dieses Lächeln. Es war sein Lächeln von früher, kurz bevor er Großvater einen oder auch zwei dumme Sprüche gedrückt hatte. Vor allem aber brach es diese unerträgliche, distanzierte Maske und ein Stück seines alten Ichs schimmerte hindurch. Augenblicklich begann mein Herz wie wild zu pochen.
„Ja, es ist wirklich nicht leicht Worte zu finden, die meinen Großvater beschreiben. Aber ich möchte es versuchen und vielleicht spendet es dem ein oder anderen tatsächlich Trost."
Ich begann den weichen Stoff meines schwarzen Jumpsuits zwischen meinen Fingern zu kneten.
„Albert war kein einfacher Mensch", sprach Kieran. „Er war streng, oft eigenwillig, und es war nicht immer leicht, mit ihm umzugehen."
Pikiertes Raunen war zu hören.
„War er ein guter Vater? Hm." Kierans Gesicht glich einer Fratze. „Seine Tochter hat sich mit Pillen umgebracht. Da bestand wohl, wie er es formuliert hätte, ein gewisser Spielraum nach oben. War ein guter Großvater? Nun, Marisol und ich hatten zumindest ein warmes Essen auf dem Teller. Meistens, wenn wir artig waren. Ja, auch hier hätte es einen gewissen Spielraum nach oben gegeben."
Ich warf einen raschen Seitenblick in die Bank neben uns. Doch es war kein Entsetzen, das in den Gesichtern lag. Sie sahen betreten drein, aber nicht so als ob sie sich für den Verstorbenen schämten, sondern für Kieran.
Es versetzte mir einen Tritt in die Magengrube. Er sprach die Wahrheit, aber natürlich wollte sie niemand hören. Selbst jetzt, wo der alte Mann im Sarg lag.
„Er ging seinen eigenen Weg – kompromisslos und ohne sich viel um die Meinung anderer zu kümmern. Und er hat seine Spuren hinterlassen." Kieran warf mir einen flüchtigen Blick zu.
Ich presste die Lippen aufeinander und spürte, wie Caleb mein Bein tätschelte. Doch mir war aktuell nicht nach Berührungen zumute.
Kieran schien mein Unbehagen zu bemerken, kurz überlegte er und fuhr dann fort: „Ja, Spuren hat er hinterlassen. Keine schönen und wohltätigen – auch wenn er mit seinen großzügigen Spenden und Fördergeldern der Gemeinde ein ganz anderes Bild von sich vermitteln wollte. Was wirklich von ihm bleibt, ist ein Haufen Leid und Schmerz. Und wenn ich den alten Mann richtig kenne, war genau das sein Ziel."
Der Priester begann nervös von ein auf den anderen Fuß zu tippeln, aber traute sich nicht, Kieran von seiner Abrechnung abzubringen. Es war bezeichnend. Bezeichnend für alle hier im Raum. Niemand tat etwas. Nie.
„Keine Sorge, ich bin gleich fertig." Kieran schenkte dem Priester ein halbherziges Lächeln und sprach weiter: „Albert Delorean war ein gläubiger Mann. Er glaubte an Gott, Jesus und seine Engelchen, aber auch die Hölle. Und zum Abschied bleibt mir daher nur noch eines zu sagen. Wo auch immer er dort nun ist, wird er wohl ewig bleiben. Und auch wenn ich selbst seinen Glauben nicht teile, spendet mir diese Gewissheit Trost. Die Gewissheit, dass es dieses Mal ein Abschied auf ewig ist. Danke, lieber Großvater." Das letzte Wort klang wie ein Peitschenhieb.
Es war mucksmäuschenstill in der riesigen Kirche, als Kieran mit sachten Schritten die Treppe zu seinem Platz hinunterlief.
Ein Klatschen ertönte.
Verwirrt drehte ich mich um.
„Banu", zischte es aufgebracht. „Das gehört sich nicht in einer Kirche."
Das Klatschen verstummte.
„Woher soll ich das wissen, war noch nie in einer", kam es trotzig zurück.
„Banu", mahnte es erneut.
Es zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht, das ich schnell unterdrückte.
„Nun denn, dann widmen wir uns dem nächsten Lied", hüstelte der Priester eilig.
Dieses Mal sang ich ein wenig enthusiastischer mit. War es Gerechtigkeit, die Großvater durch die Rede widerfahren war? Nein, er war tot. Es würde keine Gerechtigkeit mehr für ihn geben – zumindest nicht, wenn man nicht an die Hölle glaubte.
Aber es war ein Trost, wie Kieran gesagt hatte. Auch wenn seine Worte wahrscheinlich nächste Woche schon wieder verhallt waren, hatten sie einen Kratzer im Ansehen des alten Mannes hinterlassen. Und kurz, nur ganz kurz all den Menschen, die hier saßen, einen Spiegel vorgehalten.

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