„Und deshalb war es der letzte Wille von Herrn Albert Charles Barnaby Montgomery Delorean, dass sein Testament persönlich verlesen wird", beendete der Notar seine zwanzigminütige Rede, die höchstwahrscheinlich ebenfalls Wille unseres Großvaters war. Der Ton war unverkennbar.
Unwohl rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her, als Caleb beruhigend seine Hand auf meinen Oberschenkel legte.
Ich versuchte ruhig zu atmen und mich auf die maßlos kitschige goldene Pferdeskulptur auf dem großen Glastisch des Notars zu konzentrieren. Die Luft in seinem Büro war stickig und ich spürte, wie sich ein feiner Schweißfilm auf meiner Haut bildete. Er musste unser Haus bestimmt gehasst haben, falls er es besucht hatte. Während unser Haus einer Gefriertruhe glich, liefen die Heizungen hier drinnen auf Hochtouren.
„Dann verlese ich nun den letzten Willen ihres Großvaters." Der Notar rümpfte die Nase und betrachtete das Papier in seinen Händen. Natürlich war es handschriftlich. Wahrscheinlich noch mit einer Feder geschrieben.
Kurz glitt mein Blick zu Kieran.
Er saß seelenruhig da und beobachtete den Notar. Lilia, die neben ihm saß, tupfte sich erneut die roten Augen. Ich fragte mich, wie diese Rede, die aus wüsten Beleidigungen gegen die Gesellschaft und hohlen Phrasen wie „Gott wird euch alle richten" bestand, sie dermaßen emotional treffen konnte. Vielleicht spiegelte sie aber auch einfach nur auf schräge Art die Trauergefühle, die sie bei Kieran vermutete, wider. Er hatte keine Miene verzogen und hockte mit verschränkten Armen einer Gefriertruhe, wie es unser Haus war, gleich auf dem Stuhl.
„... vermache ich Kieran."
Ein Raunen erklang.
Schnell löste ich mich aus meiner Starre.
Fragend blickte ich zu Caleb.
„Kieran hat das Haus und die Waldstücke bekommen", murmelte dieser, woraufhin er sich einen erbosten Blick des Notars einhandelte.
„Das las ich eben", mokierte dieser.
„Und das haben Sie auch ganz prima gemacht", feixte Caleb. „Kann es sein, dass Sie Lesen sogar gelernt haben?"
Der Notar hielt entsetzt die Luft an, ebenso wie Lilia.
Ich kniff Caleb in die Seite.
„Dieser Ton ... das ist eine Testamentsverlesung", entgegnete der Notar. „Es ist jemand gestorben."
Bevor Caleb einen weiteren Spruch ablassen konnte, kam Kieran ihm zuvor: „Korrekt, deshalb stört es die betroffene Person auch nicht mehr."
Direkt das nächste pikierte Raunen.
„Können wir nun fortfahren?", fragte Kieran und zum ersten Mal regte sich eine Gefühlsneigung auf seinem schönen Gesicht. Genervtheit.
Der Notar zog eine Grimasse wie eine beleidigte Leberwurst und schüttelte den Kopf. „So etwas habe ich ja nun auch noch nicht erlebt."
Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Gut vielleicht waren wir ihm nicht bedrückt genug oder zu patzig, aber es gab bestimmt Personen, die sich hier drinnen bereits die Köpfe eingerissen oder die hässliche Pferdeskulptur durch die Gegend geworfen hatten. Mir entging nicht, dass dieser der Schweif fehlte und sich in der tapezierten Wand eine tiefe Kerbe befand.
Die helle Verkleidung erinnerte mich an unser, nein Kierans Haus.
Ich seufzte. Vielleicht hätte ich doch noch etwas mitgehen lassen sollen. Ich hatte es mir schon gedacht, dass er alles bekommen würde. Überraschenderweise schmerzte es mich nicht. Nach dem kurzen Aufenthalt im Haus wollte ich nichts davon und alles hinter mir lassen. Und endlich, endlich vergessen.
„Das gesamte Anlagevermögen, bestehend aus Anleihen, Fonds, Aktien sowie sämtlichem Bar- und Kontoguthaben vermache ich Marisol Abrams. Ebenso wie die Originalwerke des Autors ..."
„Was?"
Doch es war nicht ich, dem die Frage entfahren war, sondern Caleb.
„Wie was?", meckerte der Notar. „Habe ich ihnen nicht deutlich genug vorgelesen?"
„Das muss ein Missverständnis sein", stotterte ich verwirrt.
„Ach so, unterstellen Sie mir jetzt, ich könnte nicht lesen, was hier geschrieben steht." Der Notar schnaufte. „Eine feine Gesellschaft sind Sie mir."
„Nein, ich ..."
„Er hat beschlossen, dass du das Vermögen erbst." Kierans klare Stimme durchschnitt den Raum und er sah mich an. Gefühlt zum ersten Mal, seit wir hier saßen. „Und es ist in Ordnung."
„Was?", kam es nun auch von Lilia.
„Ich muss Ihrer Verlobten beipflichten", erwiderte der Notar eifrig. „Sie können einen Widerspruch einlegen und ..."
„Nein, ich denke, wir sollten den letzten Willen meines Großvaters achten." Kieran spie die Worte aus wie Galle und sein eisiger Blick traf mich.
Entschuldigend sah ich ihn an. Ich hatte nicht gewusst ... es machte überhaupt keinen Sinn.
„Sind da Schulden mitverbunden? Also versteckte?", fragte Caleb. Er schien dem Braten genauso wenig zu trauen wie ich.
„Also hören Sie mal. Herr Delorean war einer meiner längsten Klienten. Er lebte in überaus geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen. Nein, da sind keine versteckten Schulden mit verbunden, wie Sie es ausdrücken."
Ich musste mich wieder in den Griff bekommen.
Nachdem sich die aufgebrachte Stimmung halbwegs gelegt hatte, beendete der Notar die Verlesung des Testaments und händigte uns einige Dokumente aus. Wir hätten Zeit, das Erbe anzunehmen oder auszuschlagen.
Ich konnte es immer noch nicht fassen. Und offensichtlich war ich nicht die einzige.
Während Kieran und Lilia sich ein Stück von uns entfernten, packte Caleb mich am Arm und zog mich in eine Ecke.
„Wtf, Babe. Das ist ja der Hammer." Er schüttelte mich. „Wir sind fucking Millionäre."
Ich biss mir auf die Wange. „Da muss ein Haken sein."
„Der Notar meinte doch nein. Aber klar, lass uns einfach, wenn wir wieder zuhause sind, einen Anwalt nehmen und das checken. Und wenn alles stimmt, dann ey ... ich kündige meinen Job und du deinen und wir machen Urlaub den Rest unseres Lebens."
„Ich mag meinen Job", murmelte ich, immer noch überfordert von der Situation.
„Ja, ich weiß, Babe. Du kannst ja auch Teilzeit weitermachen, aber ... freu dich doch mal. Das ist doch der Wahnsinn."
„Ich verstehe nicht, wieso er Kieran nicht das Vermögen vererbt hat."
„Ach der Anwaltsschnösel. Der hat doch eh genug Kohle und jetzt das Haus. Das ist bestimmt auch was wert. Kann er ja verkaufen oder die Wälder oder Bäume oder keine Ahnung. Wer weiß, vielleicht fand dein Großvater ihn ja doch beschissener, als du denkst."
„Beschissen", raunte ich. So fand er uns beide, da war ich mir sicher. Aber mich bestimmt noch ein bisschen mehr als Kieran. Ich verstand es nicht. Es musste einen Haken geben. Eine Falle.
„Ich glaube, ich muss mich mal eben etwas frisch machen", brachte ich hervor.
„Klar, tu das und dann stoßen wir heute Abend an." Er strich mir eine Strähne zurück. Kurz streifte sein Finger meine Haut. Ich ertrug es jedoch in dem Moment nicht und sagte mich los.
Im kleinen Bad, das gottseidank ein paar Grad kühler war, wusch ich mein Gesicht im eiskalten Wasser.
Ich starrte mein Spiegelbild an.
Das war falsch. Alles daran war falsch.
„Willst du das etwa so durchgehen lassen?", drang eine helle Stimme durch die angelehnte Tür ins Bad. Es war Lilia.
„Lass gut sein. Das Testament ist geschrieben und daran kann nichts mehr gerüttelt werden."
„Es geht um Millionen, Kieran."
Ich hörte, wie die Schritte auf dem Flur stehen blieben.
„Und?", kam es kalt zurück. „Wir haben genug Geld. Deine Eltern sitzen auf flüssigem Gold. Du brauchst es nicht."
„Aber du vielleicht."
„Das habe ich nicht zu entscheiden. Es wurde bereits entschieden. Und das Vermögen gehört Marisol, wenn sie das Erbe antritt."
Ein theatralischer Seufzer erklang. „Was soll das Theater jetzt? Es ist nicht so, dass ich es ihr nicht gönne. Aber wir saßen jedes Weihnachten, Ostern, ein Haufen Wochenenden bei dem alten Stinkstiefel. Und das ist der Dank."
Ich fasste mir ans Herz. So nah standen sie Großvater? So viele Besuche? Wieso hatte Kieran das getan?
„Da hast du wohl ein schlechtes Bild von ihm erhalten", sagte Kieran. „Er dankt nie. Vielleicht waren wir ihm letztes Weihnachten auch einfach nicht gesprächig genug und das ist die verspätete Ohrfeige."
„Das ist doch albern."
Schweigen.
„Ich verstehe dich wirklich nicht", klagte Lilia. „Gibst dich einfach so geschlagen und mit diesem Haus und ein wenig Forst zufrieden. So bist du doch sonst nicht."
„Es ist doch ein schönes Haus." Ein bedrohlicher Unterton hatte sich in Kierans Stimme gelegt.
„Willst du es verkaufen?" Lilias Stimme schnellte hoch. „Oder Einziehen? Nur über meine Leiche. Wir haben bereits ein hübsches Haus. Ich will unter gar keinen Umständen ..."
„Du hast Recht. Vielleicht sollte ich es anzünden."
Meine Augen weiteten sich und ich musste zwanghaft meine Atmung flach halten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
„Das ist noch alberner. Ich habe auch genug davon." Etwas raschelte. Ein Mantel. „Ich fahre jetzt zu meinen Eltern. Und wenn wir uns später sehen, hoffe ich, du bist ein wenig zur Besinnung gekommen, mein Lieber."
Ohne ein weiteres Wort stöckelte sie von dannen.
„Hast du genug gelauscht?"
Die Frage ließ mich zusammenzucken.
In dem Moment wurde sanft die Tür aufgestoßen. Kieran stand vor der Schwelle und musterte mich ausdruckslos.
„Ich ...", setzte ich an. „Ich wusste nicht ..."
„Dass ich dich hören kann? Du bist immer noch so laut wie damals."
„Es tut mir leid, ich wollte euch nicht belauschen."
„Was wolltest du dann?"
Ich schwieg. Mir fiel keine plausible Antwort ein.
„Warum erbe ich das Geld?", schoss es stattdessen aus mir raus.
Kieran zuckte mit den Schultern. „Ich kann nicht in den Kopf des alten Mannes gucken. Er wird seine Gründe gehabt haben."
In dem Moment sah ich es. Ein kleines Aufblitzen in seinen Augen.
„Hast du das Testament gefälscht?"
Er setzte ein groteskes, schräges Lächeln auf. „Und mir selbst nur das Haus überlassen. Denkst du das?"
Ich kaute auf meiner Wange.
„Freu dich doch einfach, dass du so geldreich gesegnet wurdest. Lilia meinte, du würdest gerne studieren. Die Gebühren sind hoch. Vielleicht hilft es dir."
„Ich will keine Almosen."
„Sieh es doch als ... Schadensersatz."
Ich schaute zu Boden. „Hat Lilia dir noch mehr erzählt?"
„Wie meinst du das?"
„Über mich?"
„Nur oberflächlich. Von deinem Job, deinen Studienwünschen, deiner Heirat. Immer mal wieder ein paar Infos hier und da."
„Und du hast es nicht für nötig gehalten, dich selbst einmal zu melden?" Ich wusste nicht, aus welchen Tiefen die Worte aus mir heraussprudelten. Aber es waren so dringende Fragen.
Ich hörte ein paar Schritte. Dann roch ich ihn. Kieran musste dicht vor mir stehen und sein Duft wehte mir entgegen. Ich ballte die Fäuste, als ob es etwas gegen das Hämmern meines Herzens helfen würde. Ich war verheiratet verdammt.
„Die Frage könnte ich dir doch auch stellen." Seine Stimme war dunkel und samten. „Mari, warum siehst du mich nicht an?"
Ich erschauerte beim Klang meines Namens.
Tapfer sah ich auf.
In zwei himmelblaue Augen, die so kalt und doch so sengend waren.
„Mach das nicht", wisperte ich.
„Was?"
Ich rieb mir die Arme, um die Gänsehaut loszuwerden. „Du bist einfach verschwunden und hast mich allein gelassen in diesem Alptraumhaus. Kein Ton. Keine Nachricht. Frag mich nicht, wieso ich mich nicht gemeldet habe." Schmerz erstickte meine Stimme.
In dem Moment spürte ich ein paar Finger, die sachte über mein Kinn strichen und es emporhoben.
„Wenn ich geblieben wäre", sprach Kieran leise. „Dann wärst du dort gelandet, wo mein Vater lag. Das war der Deal."
Die Leichtigkeit in seiner Stimme stand im krassen Kontrast zu seinen Worten.
„Was für ein Deal?" Mit großen Augen sah ich ihn an.
„Den Deal, den unser Großvater mir damals angeboten hatte. Er meinte, du hättest mich zum Brandstifter werden lassen, und man müsste dich tilgen. Ich oder du. Wir konnten nicht beide in dem Haus bleiben."
„Warum hast du das nicht gesagt?"
Kieran ließ seine Finger sinken und ich trauerte der Berührung nach.
„Ich war abgekappt."
„All die Jahre." Ich lachte höhnisch. Hatte er mich doch im Stich gelassen.
„Am Anfang. Aber dann dachte ich an unser Gespräch am Sterbebett meines Vaters. Diese Familie bedeutet nur Schmerz für alle, insbesondere für die Frauen. Und es wäre das Beste, dich gehen zu lassen. Weit weg. Damit du dich entfalten kannst und nicht mehr gebunden bist. Weder an das Haus, den alten Mann, noch an mich."
Tränen stiegen mir in die Augen. „Das konntest du doch nicht so einfach entscheiden." Ich schniefte. „Ohne mich. Wir wollten doch zusammen weg ..." Ich hatte das Gefühl, alles würde wieder rausbrechen.
„Zusammen ... ich hatte mich schon dagegen entschieden", gab Kieran ernst zurück. „Als ich das Haus damals in Brand gesetzt habe." Sein Blick wurde hart. „Und ich würde es wieder tun."
Mit den Worten drehte er sich um und ging.
Obwohl ich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als all das hier zu vergessen und loszulassen, wünschte ich mir aktuell nichts mehr, als ihm hinterherzulaufen, am Arm zu packen und an mich zu ziehen. Aber ich tat es nicht.
Mein Mann wartete im Flur. Wahrscheinlich hatte Kieran Recht. Ich war nicht mehr an ihn gebunden. Es war vergangen und ich musste nun nach vorne blicken. Mit oder ohne Erbe.
DU LIEST GERADE
Echoes in Time
RomanceMit acht Jahren wird Marisol adoptiert und zieht in das alte, riesige Herrenhaus der Familie Delorean ein. Dort erwartet sie nicht nur ein neuer Großvater, sondern auch Stiefbruder. Kieran, der Junge in ihrem Alter, zeigt ihr unmissverständlich, das...