„Sicher, dass du da allein hinwillst?" Caleb sah mich sorgenvoll an.
Immer noch mit einem mulmigen Gefühl in den Knochen nickte ich. „Ich denke schon."
Noch immer konnte ich es nicht glauben, dass ich zurückgekehrt war. In diese Heimat, die sich nicht wie eine solche anfühlte. Wahrscheinlich wäre ich auch nicht hierhin gekommen, hätte Lilia mich nicht bekniet. Ebenso wie Caleb.
„Vielleicht kannste ja schon was einstecken." Er grinste.
Entsetzt sah ich ihn an, woraufhin sein lautes, kehliges Lachen ertönte.
„Alles gut, tu nichts, was du nicht willst. Aber verdient hätte der alte Sack es."
Ich konnte mir ein halbes Lächeln abringen. „Wer weiß, in welchem Zustand das Haus überhaupt ist."
Ich wusste zwar von Lilia, dass Großvater dort bis zum Schluss gelebt hatte. Allerdings war er am Ende seiner Tage ans Bett gebunden. Ans Bett und ein Zimmer. Wie Kierans Vater.
Ich schob den unliebsamen Gedanken beiseite.
„Kommst du denn rein?" Caleb klemmte mir eine Strähne aus dem Gesicht.
Ich nickte. „Ich habe noch einen Schlüssel." Tatsächlich hätte ich diesen beinahe vergessen. Nachdem ich damals innerhalb von einer halben Stunde mein Hab und Gut zusammengepackt hatte und zu Mei geflohen war, war er in den Tiefen meiner Tasche verschwunden. Eingepackt hatte ich ihn, weil ich befürchtete, es mir auf halbem Weg doch noch anders zu überlegen. Bei jedem Umzug hatte ich ihn in die hinterste Ecke von Schubladen oder Schränken geworfen. Es war absurd. Ich wollte nichts sehnlicher, als all das abstreifen. Aber der Schlüssel blieb. Gut, irgendwann hatte ich ihn auch einfach vergessen und musste vor unserer Abreise relativ lange danach suchen.
„Klasse, wenn irgendetwas ist, Babe, meldest du dich, okay." Caleb drückte mich fest.
Ich war so froh, dass er hier war. Auch wenn ich ihn bei meinem jetzigen Vorhaben nicht dabeihaben wollte. Ich wusste nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich das Haus betrat, und musste das Ganze erst einmal für mich verarbeiten sowie wirken lassen. Wovor es mir graute, war der spätere Termin. Die Testamentsverlesung dürfte eine Tortur werden. Vor allem, wenn ich ihm dort wieder begegnen würde ...༺❀༻
Da stand es – genauso friedlich und still, wie damals, als ich vor all den Jahren als kleines Kind hierhergekommen war. Mit zögernden Schritten näherte ich mich dem Herrenhaus.
Kurz vor der Tür steuerte ich nach links zu einem der Fenster. Sicherheitshalber wollte ich einen Blick reinwerfen.
Ich lugte zwischen den Gittern durch das Glas.
Natürlich waren die Lampen aus, aber das Tageslicht warf genug Licht rein, um zu erkennen, was sich im Inneren befand. Die dunklen Möbel, die vollbehangenen Wände. Es sah aus wie immer. Ich hatte das Gefühl, dass sich nichts verändert hatte. Und das machte mir Angst. Denn es musste sich etwas geändert haben.
Ich merkte, wie mich zunehmend der Mut verließ. Allerdings wollte ich nicht ängstlich davonlaufen wie sonst. Einen tiefen Atemzug nehmend ging ich zur schweren Holztür. Vielleicht hatte ich Glück und der Schlüssel passte nicht.
Doch meine Hoffnung wurde zerschlagen, als das Metall reibungslos in das Schloss glitt.
„Fantastisch" murmelte ich.
Mit einem Klicken öffnete die Tür. Fast schon zu leicht. Schien der alte Mann das Haus doch noch gut in Schuss gehalten zu haben.
Kaum stand ich im Inneren, wollte ich direkt wieder umdrehen und weglaufen. Mein erster Eindruck hatte mich nicht getrogen. Es war wie immer. Es sah nicht nur so aus, sondern roch auch so wie früher. Der schwere, leicht muffige Geruch kroch aus jeder Ecke, jeder Nische.
Übelkeit machte sich in meinem Magen breit, aber ich wagte einen Schritt nach vorne. Mehr noch, ich schloss die Tür hinter mir und schritt voran.
Du brauchst keine Angst mehr zu haben, wiederholte ich mir innerlich immer wieder wie ein Mantra. Es war nur ein Haus. Ein altes, verlassenes Haus. Und der Mensch, der es zu etwas Schlimmen gemacht hatte, war nicht mehr hier. Nur ein Haus ...
Plötzlich knacke es von oben.
Stockstarr blieb ich stehen. Ich wagte es nicht den Blick zu heben.
War da jemand?
Es blieb still. Unwohl blinzelte ich empor. Doch die Treppe war leer.
„Gracias a Dios", zischte ich und musste im nächsten Moment lächeln. Wie Großvater es gehasst hätte, wenn ich hier Spanisch gesprochen hätte. Und wie er alles an dem, was ich jetzt war gehasst hätte. Meine senfgelbe Tasche, den gemusterten Rock aus dem Secondhand-Laden und den weiten Stickpullover, den ich zusammen mit den langen Ohrringen auf dem Flohmarkt erstanden hatte.
Ein wenig selbstbewusster setzte ich meinen Weg fort. Einen Plan hatte ich nicht, bis ich vor dem Raum innehielt, der mich scheinbar wie magisch angezogen hatte. Der Salon mit dem Klavier. Der Raum, in den ich an meinem ersten Tag damals gelotst worden war.
Fühlte ich mich eben noch erhobenen Hauptes, senkte sich eine allumfassende Schwere wie ein bleierner Schleier auf mich. Vor allem, als ich den Flügel sah. Er hatte das Feuer damals überlebt.
Langsam lief ich auf ihn zu. Er wirkte wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Gedankenversunken strich ich über das lackierte Holz. Ich hörte die Melodien durch meinen Kopf echoen, die auf ihm gespielt worden waren. Sei es von mir oder von ...
„Hallo, Marisol."
Wie ein Donnerschlag riss mich die Stimme aus meinen Gedanken.
Ich schreckte auf und blickte zum Eingang des Salons.
Für einen Moment war ich mir unsicher, wen ich da vor mir hatte. Eine hochgewachsene Gestalt in blauem Hemd und beiger Hose. Das blonde Haar zurückgekämmt. Eigentlich nicht viel anders als früher.
Aber das Gesicht ließ mich zweifeln. Die Züge waren kantig, reserviert und kühl. Fast so wie bei ...
„Wie geht es dir?" Die Frage kam wie eine Peitsche und ein unfreundlicher Ton schwang in der tiefen Männerstimme mit.
„Ich ähm." Eilige versuchte ich meine Fassung wieder zu erlangen. „Ich hatte einen Schlüssel."
Die Arme verschränkten sich und mir wurde schlecht.
„Stimmt, das Schloss wurde nie ausgewechselt."
„Wie alles hier", gab ich schmunzelnd zurück. Es war falsch, aber ich wollte etwas Leichtigkeit in die angespannte Stimmung reinbringen.
„Ja, er wollte alles so halten, wie es war." Kieran ließ mich nicht aus dem Blick. „Bis zum Schluss."
Seine Augen waren wie blaue Laserschwerter, die sich durch mich hindurchbohrten.
„Was treibt dich hierher?", fragte Kieran.
„Lilia hat ..." Ich stockte. „Deine Verlobte hat mich informiert. Sie meinte, es wäre gut, wenn ich vorbeikommen würde."
„In das Haus?"
Mir gefiel nicht, wie er mich löcherte. Allerdings wollte ich die Situation nicht zum Kippen bringen.
„Ich musste es mir einfach noch einmal anschauen", gab ich zurück. „Es ist schwierig." Nervös nestelte ich an meinem Ehering. Eine blöde Angewohnheit, aber so ließ ich zumindest die Röcke und weiten Hosen in Ruhe.
„Ist dein Ehemann auch hier?" Kieran sah sich kurz um. Es war eine Farce. Der Salon verfügte über keinerlei Ecken. Er sah genau, dass ich hier allein war.
„Nein, ist er nicht", gab ich zurück, „aber er kommt später zur Testamentsverlesung."
„Sehr schön", erwiderte Kieran knapp. „Dann kann ich euch noch meinen Glückwunsch aussprechen."
„Hast du doch", gab ich bissig zurück – unsicher, was diese Sticheleien sollten. „Lilia und du habt eine Karte geschrieben."
Kieran lächelte und endlich erkannte ich ihn unter der dünnen Maske der Distanziertheit. Es war das gleiche falsche Lächeln, das er Großvater damals gezeigt hatte.
„Aber es ist doch nicht das Gleiche, wie persönlich zu gratulieren. Also herzlichen Glückwunsch, Mari."
„Danke. Dir auch. Zur Verlobung."
Kieran ließ die Finger knacken. Sein Blick wanderte zu dem Flügel neben mir.
„Interesse an dem alten Teil?"
Ich presste die Lippen aufeinander. „Ich denke nicht. Du warst schon immer der bessere Spieler."
„Ich habe meinen eigenen. Aber es findet sich ja noch genug anderes in diesem Haus."
„Deinem Haus", gab ich zurück.
Kieran strich sich über das Kinn. „Abwarten. Das Testament wurde noch nicht verlesen."
Ich stieß einen Lacher aus. Einen ehrlichen Lacher.
„Ja, ich denke, er wird mir sein ganzes Vermögen vermacht haben", gab ich erheitert zurück.
Kurz brach die Maske und ein flüchtiges Lächeln streifte Kierans Gesicht, bevor es wieder starr wurde. Etwas in mir wollte es unbedingt wieder zurückbringen.
„Vielleicht sollte ich dann jetzt schon einmal alles Wertvolle stehlen, bevor das Testament offiziell verlesen wird", gab ich halbironisch von mir und klopfte auf das Holz des Pianos.
„Unterschlagen", kam es zurück.
Fragend sah ich ihn an.
„Du bist potenzielle Erbin. Wenn du hier etwas mitgehen lässt, das dir nicht gehört, wäre das Unterschlagung. Nicht einfacher Diebstahl."
„Ah ja, der Jurist. Ich vergaß. Bestimmt viel zu tun in der Kanzlei?"
Lilia hatte mir erzählt, dass Kieran Jura studiert hatte. Beim ersten Mal hatte ich laut losgelacht und dachte, sie veräppelt mich. Bei den folgenden Malen und als sie dann offenbarte, er würde in einer renommierten Kanzlei anfangen, dachte ich, sie hätte sich vielleicht mit einem anderen Kieran verlobt und wir redeten die ganze Zeit über zwei unterschiedliche Personen.
„Nicht wenig, aber machbar. Ich habe ein paar Tage freibekommen, um mich um all das hier zu kümmern."
„Wenn ich helfen kann ...", schoss eine Stimme wie automatisch los, bevor ich sie bremsen konnte.
Kieran fixierte mich. „Einfach nichts unterschlagen ..."
Ich verdrehte die Augen und strich mir das Haar hinters Ohr.
„Allerdings muss ich jetzt ohnehin los. Du hast das Haus also für dich allein." Bevor Kieran den Salon verließ, blieb er stehen, den Rücken mir zugewandt.
„Ja, ich weiß. Ich lasse nichts mitgehen", feixte ich.
Seine Finger krallten sich in das Holz des Rahmens.
Da drehte er sich noch einmal zu mir um. Ich konnte seinen Blick nicht deuten. Doch bevor ich etwas erwidern konnte, kam er mir zuvor.
„Die langen Haare sehen sehr hübsch an dir aus."
Mein Herz setzte einen Moment aus. Nein, es begann plötzlich aufgeregt zu pochen.
Ich schluckte. Das war nicht gut ...
Ein Lächeln huschte über Kierans Gesicht. Nur für einen Moment. Den Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Gefühl, dass es ehrlich war. Und viel schlimmer. Gewinnerhaft, obwohl es nichts zu gewinnen gab.
Dann nahm es wieder die vertrauten sarkastischen Züge an. „Der alte Sack hätte es wirklich gehasst."
Unfähig mich zu rühren, verharrte ich bei dem Flügel, während ich Kierans Schritten lauschte, wie sie sich im Flur entfernten.
Ich hatte Recht.
Die Testamentsverlesung würde eine Tortur werden.
Und hier hatte sich nichts verändert. Noch schlimmer. Wieder in diesem Haus hatte ich mich nicht verändert.

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Echoes in Time
RomanceHoch ragen die Mauern, kalt schneidet die Luft. In diesem Haus zählt Gehorsam - und wer sich nicht beugt, wird lernen, es zu tun ... Mit gerade einmal acht Jahren verliert Marisol ihre Mutter und wird adoptiert. Sie zieht in das alte, riesige Herren...