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"Bereit für deinen ersten Trip in die Stadt als neues Du?", fragt Sam und grinst mich an. Ich hole einmal tief Luft und nicke dann.

Wir verlassen die kleine Wohnung und ich fühle mich unwohl. Wir gehen ein Stück und Sam redet über irgendeinen neuen Laden, in dem es etwas zu essen geben würde. Ich versuche ihm zu folgen, doch meine Gedanken schweifen ständig ab. Ich fühle mich immer unwohler und als wir langsam auf andere Menschen treffen, die ihre Einkäufe erledigen oder Mädchen, die mit ihren besten Freundinnen shoppen gehen und stolz die vielen Tüten in ihren Händen tragen, bleibe ich stehen. Das bin nicht mehr ich.

Abrupt hört Sam auf zu reden und dreht sich zu mir um. Mein Blick liegt auf den vielen Menschen, dem Gedrängel und der Hektik. Meine Hände ballen sich zu Fäusten und meine Lunge fühlt sich an, als würde sie eingequetscht werden.

"Chloé?", fragt Sam und stellt sich nun vor mich.

"Sam, ich glaube ich kann das nicht.", antworte ich leise und sehe zu Boden.

"Doch, du kannst. Es wird mit der Zeit besser, vertrau mir."

"Es.. Es fühlt sich komisch an. So als könnte ich die Realität nicht mehr von dem was in meinem Kopf geschieht unterscheiden. Ich weiß auch nicht."

Ich sehe wieder hoch zu Sam. Er sieht mich an, doch ich kann nichts aus seiner Mimik entnehmen.

"Ich glaube an dich, Chloé.", sagt er schließlich und streckt seine Hand nach mir aus.

Ich betrachte sie kurz, bin nicht sicher, ob ich sie ergreifen soll. Sam hebt eine Augenbraue und sieht mich ermutigend an. Ich schließe die Augen für einen Moment, atme einmal tief durch und ergreife dann Sams warme Hand.

"Bereit?", fragt er und drückt meine Hand kurz.

"Bereit.", wiederhole ich und Sam und ich gehen langsam, Hand in Hand, auf die Menschenmenge zu und ordnen uns ein.

Langsam verschwindet das Gefühl und ich kann mich besser konzentrieren. Meine Gedanken sind nicht mehr verschwommen und ungeordnet und ich kann Sam besser zuhören.

"Hey, Sam!", sage ich lachend und deute auf einen kleinen Laden. Er richtet sich seine Sonnenbrille und sieht mich fragend an.

"Ich möchte mir ein Tattoo stechen lassen.", gebe ich meinen Entschluss bekannt.

Tatsächlich habe ich mich spontan dazu entschlossen, mir nach dem Tattoo von Samuel noch eins stechen zu lassen. Eins von tieferer Bedeutung. Für meine Mutter. Für Kate. Für mein altes Leben, welches ich hinter mir lassen musste.

"Bist du sicher?", fragt Sam, doch ich ziehe ihn einfach in den Laden.

Ein junger Mann, vielleicht etwas älter als Sam erscheint und lächelt uns an. Ich lasse Sams Hand los und gehe auf den Mann zu. Sein Arm ist von oben bis unten tätowiert und ich will gar nicht wissen, wie viele Tattoos er noch unter seinem schwarzen Shirt trägt.

"Hi, ich bin Luke. Kann ich euch helfen?"

"Ich hätte gerne ein Tattoo.", antworte ich und ignoriere Sam, der im Hintergrund seine Arme verschränkt.

"Und hast du schon ein Motiv vor Augen?"

"Ja, eine Feder. Hier an der Seite.", ich zeige auf die Stelle, die Rücken und Oberkörper verbindet.

"Das könnte schmerzhaft sein.", gibt Luke zu bedenken.

"Das ist es mir wert.", antworte ich fest entschlossen.

Ich soll mich auf eine liege legen und die Stelle frei machen. Sam setzt sich neben meinen Kopf und ich lächle ihn glücklich an. Sein erwidertes Lächeln sieht gequält aus. Als die Nadel angesetzt wird, kneife ich die Augen zusammen. Die Erinnerung an Samuels Tätowierung kommt wieder hervor und ich versuche mit aller Kraft sie zu verdrängen. Ich muss damit abschließen. Ich muss endlich damit abschließen.

Ich spüre, wie Sam meine Hand nimmt. Diese kleine Geste, hilft mir so sehr. Ich kann klarer denken, kann Samuel fürs erste verdrängen und mich auf den Schmerz und seinen Sinn konzentrieren. Ich weiß, dass dieser Schmerz nichts im Gegensatz zu dem meiner Mutter und Kate ist, aber immerhin nehme ich auch etwas der Last auf mich. Die Feder steht für Freiheit. Durch meine Lüge sind die zwei Menschen, die ich am meisten geliebt habe und immer noch liebe in Sicherheit und frei. Und ich bin durch Sam auch frei. Sie steht also gleichzeitig für mein altes und auch für mein neues Leben.

"Fertig.", reißt Lukes Stimme mich aus meinen Gedanken. Ich öffne vorsichtig die Augen und lasse Sams Hand los, um das Tattoo anzusehen. Die Folie auf meiner Haut versperrt mir die Sicht zwar etwas, aber ich kann es trotzdem gut erkennen.

"Wow, das ist großartig. Danke, danke, danke."

"Dafür werde ich bezahlt.", winkt der junge Mann ab. Nachdem ich bezahlt und mich noch einmal bei ihm bedankt habe, verlassen Sam und ich den Laden und mischen uns wieder unter die Menschen, die schon gar nicht mehr so angsteinflößend aussehen.

"Gehen wir etwas essen? Ich habe Hunger.", sage ich und Sam nickt.

Wir gehen in ein Fastfood-Restaurant und Sam nimmt meine Bestellung auf und geht das Essen holen. Kurze Zeit später nimmt er gegenüber von mir Platz und wir beginnen zu essen.

"Der Typ hatte wirklich Talent, findest du nicht?", frage ich und sehe von meinem Burger auf.

"Ja, im sich an dich ranmachen und flirten.", gibt Sam grummelnd von sich.

"Was soll das Sam? Er hat sich doch nicht an mich rangemacht.", erwidere ich.

"Nein, überhaupt nicht.", antwortet Sam ironisch und sieht wieder auf sein Essen.

"Bist du etwa eifersüchtig?", frage ich aus Spaß und ernte sofort einen bösen Blick von Sam.

Entschuldigend hebe ich die Hände und sage: "Schon gut, Sam. Ich gehe mir noch was zu Essen holen."

"Wie viel Hunger hast du eigentlich?", fragt Sam daraufhin lachend und ich zucke nur mit den Schultern und gehe mir schmunzelnd noch etwas zu Essen kaufen. Wieder zurück am Tisch beäugt Sam mich kritisch.

"Was?", frage ich und diesmal ist es Sam, der die Hände hebt.

"Nichts, ich habe nur nachgedacht."

"Of course it's happening inside your head, Harry, but why on earth should that mean that it is not real?" - Albus Dumbledore, Harry Potter and the deathly hallows by J.K Rowling

DoppelgängerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt