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"Könntest du kurz hier warten?", fragt Sam plötzlich, bleibt stehen und deutet auf den Boden. Es wird langsam dunkel und es sind nicht mehr so viele Menschen unterwegs wie vorhin. Außerdem wird es kalt und ich verspüre Sehnsucht nach unserer kleinen, warmen Wohnung und dem gemütlichen Sofa. Wir stehen vor einer Apotheke.

"Klar.", antworte ich nach kurzem Zögern, doch es hört sich eher wie eine Frage an.

Sam lächelt mich dankend an und geht mit schnellen Schritten in die Apotheke. Ich versuche zu erkennen, was er kauft. Er spricht mit der Apothekerin, doch ich kann nicht erkennen was sie ihm in die Tüte packt. Er bezahlt und unterhält sich noch mit der Angestellten. Vielleicht braucht Sam ja auch einfach nur neue Aspirin. Ich lehne mich gegen die kalte Steinwand und beobachte die wenigen Menschen, die noch über die Straßen gehen. Die Straßenlaternen erleuchten die Straßen und es sieht nach Regen aus. Die Kälte der Wand frisst sich durch meine Jacke durch und ich hoffe, dass Sam schnell wiederkommt.

"Fertig. Gehen wir weiter?"

Sam steht wieder vor mir. Die kleine Plastiktüte hält er in der Hand und sie raschelt bei jeder seiner Bewegungen. Meine Neugier lässt sich nicht zurückhalten. Wieso sollte ich bloß warten?

"Was ist da drin?", frage ich und deute auf die Tüte.

"Zeige ich dir später. Komm wir gehen nach Hause, es wird kalt.", winkt er ab und lächelt mich entschuldigend an.

"Du hast recht."

Seufzend folge ich Sam durch die Straßen. Als er die Wohnungstür öffnet, empfängt mich direkt eine angenehme Wärme und ich schlüpfe schnell aus Mantel und Schuhen. Ich gehe zielstrebig ins Schlafzimmer und ziehe mir eine gemütliche Jogginghose an. Dann suche ich Sam, der mit einem Glas Wasser und seinem Handy an der Küchentheke steht und konzentriert auf dem Handy tippt. Die verräterische kleine Tüte steht neben ihm.

"Sam? Willst du mir jetzt sagen was da drin ist?", frage ich und lehne mich an der Theke an.

"Okay. Aber zuerst muss ich dich etwas fragen.." Sam legt sein Handy weg und dreht sich zu mir. Ich nicke und sehe ihn abwartend an. Sami scheint diese Angelegenheit ernst zu sein und mein Lächeln verschwindet langsam. Es scheint nichts positives zu sein.

"Du und Samuel.. Habt ihr.. Ich meine.. Hat er dich.."

"Vergewaltigt?", ergänze ich und Sam nickt verlegen.

"Ja, hat er. Wieso ist das wichtig? Wieso können wir die Vergangenheit nicht endlich ruhen lassen. Was soll das, Sam?" Ich fahre mir durch meine kurzen Haare und sehe Sam verletzt an.

"Chloé.. Ich habe nachgedacht. Du weißt schon, vorhin beim Essen. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass.."

"Dass was?", frage ich und stelle meine Hände in die Hüften.

"Sieh selbst.", fordert er mich auf.

Sam überreicht mir die Tüte und fährt sich verzweifelt durch die Haare. Dann sieht er mich mitleidig und verletzt an. Mein Blick wandert von ihm zu der Tüte in meiner Hand. Langsam öffne ich sie und nehme die Packung heraus.

"Ein Schwangerschaftstest? Ist das dein verdammter Ernst, Sam?", frage ich aufgebracht, nachdem ich die Packung betrachtet habe.

"Chloé, denk doch bitte nur einmal darüber nach. Es passt doch alles zusammen!"

"Ich bin nicht schwanger, Sam! Wie kommst du denn darauf?"

"Und woher willst du das wissen? Ich glaube nicht, dass Samuel so weit gedacht hat, als er dich vergewaltigt hat. Er wollte nur seinen Spaß und dir weh tun und das wissen wir beide, Chloé! Verdammt!", fährt Sam mich an und schlägt mit seiner Faust gegen die Wand. Ich zucke zusammen und sehe dabei zu, wie Sam seinen Kopf an die Wand lehnt.

"Gut. Dann mache ich den Test eben."

Ich nehme die Packung und gehe ins Bad. Ich höre wie Sam seufzt und mir bis auf den Flur folgt. Während ich den Test mache, höre ich Schritte im Flur. Ist Sam nervös? Wäre das ganze nicht sowieso mein Problem? Ich trete zu ihm hinaus und stehe unruhig da. Die Wartezeit ist der Horror.

Ich will kein Kind von Samuel. Dieses Tattoo an meiner Hand und die Erinnerungen an die Zeit mit ihm genügen mir vollkommen. Außerdem habe ich meine Familie wegen ihm verloren. Ich könnte es niemals abtreiben, ich möchte keine Mörderin sein. Aber dieses Kind würde mich immer an Samuel erinnern. Dabei könnte es auch nichts dafür, dass sein Vater ein Psychopath ist. Ich hoffe einfach, dass es nicht wahr ist. Der Test darf nicht positiv sein. Dann stände mir wohl die schlimmste und schwerste Entscheidung in meinem Leben bevor.

Ich sehe zu Sam. Er erwidert meinen Blick und die Aufregung steigt. Ich atme tief durch und versuche die Verzweiflung nicht gewinnen zu lassen. Dann sehe ich erneut auf den Test.

Ich glaub, Ihr denket jetzt, was Ihr gesprochen,
Doch ein Entschluß wird oft von uns gebrochen.
Der Vorsatz ist ja der Erinnrung Knecht,
Stark von Geburt, doch bald durch Zeit geschwächt,
Wie herbe Früchte fest am Baume hangen,
Doch leicht sich lösen, wenn sie Reif erlangen.
Notwendig ists, daß jeder leicht vergißt
Zu zahlen, was er selbst sich schuldig ist.
Wo Leidenschaft den Vorsatz hingewendet,
Entgeht das Ziel uns, wann sie selber endet.
Der Ungestüm sowohl von Freud als Leid
Zerstört mit sich die eigne Wirksamkeit.
Laut klagt das Leid, wo laut die Freude schwärmet;
Leid freut sich leicht, wenn Freude leicht sich härmet.
Die Welt vergeht: es ist nicht wunderbar,
Daß mit dem Glück selbst Liebe wandelbar;
Denn eine Frag ists, die zu lösen bliebe,
Ob Lieb das Glück führt, oder Glück die Liebe.
Der Große stürzt, seht seinen Günstling fliehn;
Der Arme steigt, und Feinde lieben ihn.
So weit scheint Liebe nach dem Glück zu wählen.
Wer ihn nicht braucht, dem wird ein Freund nicht fehlen,
Und wer in Not versucht den falschen Freund,
Verwandelt ihn sogleich in einen Feind.
Doch um zu enden, wo ich ausgegangen,
Will und Geschick sind stets in Streit befangen.
Was wir ersinnen, ist des Zufalls Spiel,
Nur der Gedank ist unser, nicht sein Ziel.
So denk, dich soll kein zweiter Gatt erwerben.
Doch mag dies Denken mit dem ersten sterben.

DoppelgängerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt