Hey, Kleiner

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Ich brauchte wohl kaum zu erwähnen, dass Benny sehr unzufrieden war, als er mich mit Klaus und dem Fraß vorfand. Ich lächelte meinen Beinahe-Bruder an und leckte genüsslich den Pudding von meinem Löffel.
»Was ist denn hier los?« Klaus und ich sahen ihm dabei zu, wie er sich die Schuhe auszog und seinen Pullover abstreifte.
»Nervennahrung.«, antwortete ich.
»Ich dachte, ich bring ihr was von der Liste.«
»Du gibst ihr Listenfutter?« Gott, war ich etwa die Einzige, die niemals einen Blick auf 'Die Liste' hatte werfen können?
»Keine Sorge, es ist von meiner Frau geprüft.«, versicherte Klaus. Ich fühlte mich ziemlich bescheuert. Bescheuert und fett. Benny holr sich einen Löffel aus einer der Schubladen und setzte sich zu uns. Er griff über mich hinweg und schnappte sich einen der Puddings ehe ich ihn aufhalten konnte. Dieser schmierige Dreckssack.
So seltsam wie Klaus' Auftauchen vorhin gewesen war, so seltsam war es auch mit den beiden an einem Tisch zu sitzen. Klaus und Benny hatten nichts, aber auch wirklich gar nichts miteinander gemeinsam. Während Klaus jahrelang Jura studiert hatte, immer der gutgläubige und höfliche gewesen war, so hatte Benny seine Schule abgebrochen, hatte mir vor meiner Volljährigkeit Alkohol besorgt und hatte sogar paar Mal auf der Straße übernachtet. Zwar hatte Benny immer versucht mich vor 'der Straße' zu schützen und mir jedes Mal angeboten, bei ihm und Benny zu übernachten, so hatten wir den Punkt trotzdem gemeinsam. Es gab erstaunlich viele Kids die ruhige Plätzchen kannten um eine Nacht von zu Hause weg zu kommen. Mit diesen Kids war man zwar nie befreundet, doch man kannte sich und Leute aus dem Untergrund zu kennen hatte seine Vorteile, das beweist selbst Sherlock Holmes.

»Benny?«, unterbrach ich die beiden bei einem Gespräch über... Was auch immer. Mein Mitbewohner sah mich hochgezogenen Augenbrauen zu mir. »Kannst du morgen vielleicht Sherlock mitbringen?« Er wollte mir grade antworten, als ich weiter quatschte: »Oder doch lieber Hannibal? Wobei... Was wenn mein Baby mitkriegt wie Hannibal Menschen verspeist.« Gleich darauf schlug ich mir auf den Mund. »Vergiss das sofort wieder, Kleiner, so etwas gibt es gar nicht, die Welt ist wunderschön und friedlich.«

»Du beginnst jetzt schon damit, dein Kind zu belügen?«, fragte Benny skeptisch.

»Ich will ihm keine Angst machen.«

Benny suchte nach dem Blick meines Bruders, doch Klaus zuckte lediglich mit den Schultern. »Ich glaube, das ist normal im... Im wievielten Monat bist du?«

»Einundzwanzigste Woche, die Hälfte haben wir bereits!«, jubelte ich und strahlte vor Freude. Klaus und Benny sahen alles andere als Begeistert aus.

»Ich habe das Gefühl, dass ich hier einen Job übernommen habe, für den ich noch nicht bereit bin.«, bemerkte Benny entsetzt. »Vor allem nicht, wenn es um jemanden geht, der mir wie eine Schwester ist.«

»Du hast hier den harten Vater-Job ohne den ganzen Vatervorteilen angenommen«, bemerkte Klaus.

Benny schluckte und ich kicherte. Weiß Gott woher diese Glückshormone plötzlich herkamen. »Wie schaffen das alleinerziehende Mütter?«

»Mit den Eltern zusammen, vermute ich mal, nur das Eve in dieser Verfassung definitiv nicht zu solchen Eltern gehen sollte.«, gab Klaus zu bedenken.

Ich zog einen Schmollmund. »Ihr lästert und mein Baby kann euch hören.«

»Dein Baby braucht dringend einen Namen.«, erwiderte Benny.

»Vielleicht nenne ich ihn ja Ben.«

»Ben nach Benjamin?«, fragte Klaus skeptisch.

Ich reckte das Kinn demonstrativ in die Höhe. »Nein, nach...« Ich suchte nach einem Jungennamen, der in irgendeinem Sinn mit Ben zusammen hing. »Er wird einfach nur Ben heißen, Ben Dunkens.«

»Eve, du redest Bullenkacke.«

Ich lächelte Benny an. »Wie lieb du das ausgedrückt hast!«, sagte ich entzückt und stand vom Tisch auf. »Wenn ihr mich entschuldigen würdet, meine Herren, die Dame muss mal aufs Klo.«

Stolz marschierte ich ins Badezimmer und schloss hinter mir ab. Schwangerschaften waren ja so... ermüdend. Einen Moment lang lehnte ich bloß an der Tür und hielt meine Augen geschlossen. Mein Rücken schmerzte und ich wünschte mir jemandem, mit dem ich auf dem Sofa lümmeln und einfach nur kuscheln konnte. Am liebsten würde ich natürlich mit Fynn auf diesem Sofa lümmeln und The Walking Dead sehen.

Ich löste mich von der Wand und hob den Deckel der Toilette hoch. Fynn fehlte mir wirklich, ich sehnte mich mit jeder Faser meines Herzens nach ihm. Ich sehnte mich nach seinen Händen, die erstaunlich viele Schnitte vom Papier besaßen und nach dem Gefühl seiner Bartstoppeln, wenn er wieder Mal zu faul gewesen war um sich zu rasieren.

Ich seufzte und betätigte die Klospülung. Der Bauch war eine Qual, auch wenn er noch sicher nicht seinen Extremwert erreicht hatte. Extremwert, ich grübelte während ich mir die Hände wusch. War das nicht etwas mit Graphen? Mathematik war noch nie mein Fach gewesen, auch wenn Jackson sich immer große Mühe gegeben hatte, damit ich meine Prüfungen nicht verhaute - im Endeffekt hatte ich allerdings nichts von seinen Nachhilfestunden behalten.

Ich hielt die Hände lange unter den kalten Strahl, dabei vergaß ich die Zeit und grübelte weiter nach. Vor einem Jahr noch hatte ich darüber nachgedacht, wie ich aufgewachsen war, was eigentlich bei mir schief gelaufen war. Während ich meine Hände in das Wasser hielt, realisierte ich, dass mein größter Fehler meine erneute Flucht war.

Dieses Mal war ich zwar nicht alleine, doch ich hatte Fynn verloren und Megan zu einem kaltherzigen Monster erschaffen. Sie hasste mich für diese Entscheidung, sie wollte mir helfen, aber sie hasste mich dafür.

Und Fynn würde mir niemals verzeihen, ich hatte sein Vertrauen verloren, ich hatte so vieles verloren.

Langsam zog ich meine Finger aus dem Wasser und drehte es ab. Mit nassen Händen strich ich über meinen Bauch. Zuerst glaubte ich, es sei Einbildung. Erschrocken hob ich die Hände und starrte an mir herunter.

»Kleiner?«, wisperte ich, ungläubig darüber, was da grade geschehen war. Zittrig legte ich meine Hände wieder an meinen Bauch und wartete gebannt. Es vergingen einige Sekunden, dann spürte ich die Bewegung an meinen Händen. Sanft, wie ein gehauchter Kuss, wie Fingerspitzen, die sachte über Haut strichen. »Oh mein Gott!«, kreischte ich aus. »Benny!«

»Evelyn! Mach auf, ist alles okay!«, rief Klaus von außen. Ich musste wohl panischer geklungen haben als gedacht. Natürlich brauchte ich die Tür nicht aufzuschließen. Mit einer einfachen Münze konnte man den Mechanismus von außen drehen und schon konnte man das Klo ohne weiterer Probleme betreten. Die Tür wurde aufgerissen und Benny fasste mich erschrocken an die Schultern, Klaus sah panisch über seine Schulter.

»Du hast ihr Listenessen gegeben!«, beschuldigte Benny meinen ältesten Bruder und schüttelte mich leicht. »Eve, alles okay? Was ist los?«

Ich schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln, meine Mundwinkel begannen sogar zu schmerzen, doch ich strahlte einfach weiter, nahm seine Hände in meine und legte sie mir an den Bauch. Einen Moment lang sah mein Beinahe-Bruder verwirrt in mein Gesicht, ehe er laut auflachte und sich die Haare raufte.

»Das ist der Wahnsinn, einfach krank.«, lachte er und ließ Klaus an sich vorbei. Ich fühlte mich meinem ältesten Bruder noch nie so nahe, wie an dem heutigen Tag. Als Klaus den Tritt spürte, schloss er mich in seine Arme und drückte mich sanft, mir war nie klar gewesen, dass er mir immer halt geben würde, selbst wenn zwölf Jahre zwischen uns lagen, grade dieser Unterschied machte ihn zu einem kostbaren Verbündeten.

Dieser Gedanke machte mich so unfassbar glücklich, dass er mir Tränen in die Augen trieb. Zitternd atmete ich ein und drückte Klaus näher an mich, für diesen Moment wollte ich bloß festgehalten werden.


Couple in a roundabout wayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt