Lady Rose Monroe

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An dem Tag an dem ich zu meinen Eltern zog, regnete es. Es schüttete aus den Wolken, als gäbe es keinen Morgen mehr. Ich war froh darüber, dass das Wetter sich endlich mal meiner Stimmung anpasste und sich keiner mehr ohne Regenschirm aus dem Haus wagte.

Den Donnerstagabend war Benny länger in der Bar geblieben, war nachts irgendwann betrunken aufgetaucht und hatte am nächsten Tag angeboten mich zu meinen Lehrern zu fahren. Ich hatte das Angebot dankend angenommen. Als zwölfjährige war ich schon in sein Auto gestiegen, als er viel schlimmer dran gewesen war.

Er wurde auch nie erwischt, ob bekifft oder betrunken, Benny schaffte es jedes Mal unversehrt durch Londons Straßen zu kommen ohne dabei aufzufallen. Er wäre auch nie aufgefallen, wenn ich damals nicht den Krankenwagen gerufen hätte. Wobei er jedes Mal wiederholte, dass er dann vermutlich auch tot wäre.

Es war Samstagabend, bis jetzt war noch kein dritter Weltkrieg ausgebrochen, wobei ich erst seit knapp vierundzwanzig Stunden hier war, von denen ich neun geschlafen, Dad war drei Stunden golfen gewesen und Mum kam heute Nachmittag nach fünf Stunden Shopping und Kaffeekränzchen wieder. Jeanette hingegen war die ganze Zeit über ihm Haus gewesen, als ich aufgewacht war, hatte sie mir Baked Beans und Fried Egg gemacht, zum Nachtisch bekam ich Pfannenkuchen, welche mich schmerzlich an Fynn und Dean erinnerten. Es war das erste Mal nach einem Jahr, dass ich wieder das typischste englische Frühstück aß, welches man in diesem Land überhaupt servieren konnte.

An diesem Samstagabend, hatte ich meine Eltern etwa drei Stunden lang gesehen, die meiste Zeit verbrachte ich in der Küche um zu naschen und mit Jeanette zu reden. Ich fragte mich immer, wie ich meine Kindheit überstanden hatte, ohne fettleibig zu werden. Meine Vorliebe fürs Essen hatte sich schon in meiner Kindheit entwickelt und Jeanette bekochte uns seit einer halben Ewigkeit.

Auch jetzt saß ich bei ihr, half ihr mit dem Abendessen und stopfte mir immer wieder Essen in den Mund. Jeanette kochte immer das, was Mutter sich wünschte, die freie Wahl meiner Mahlzeiten wurde mit meinem Einzug gestrichen. Während Jeanette die Platten mit dem Essen ins Zimmer nebenan trug, folgte ich ihr mit einer Salatschüssel – aus der ich immer wieder mit der Hand Tomaten heraus pulte und mir diese so unauffällig wie möglich in den Mund schob. Mein Verlangen nach Essen war schrecklich. Es war so stark, dass ich im Grunde nichts anderes mehr als essen tat.

»Evelyn, Liebes, erinnerst du dich noch an Lady Monroe?«, begrüßte meine Mutter mich. Ich erstarrte in der Bewegung, eine halbe Cocktailtomate zwischen den Fingern. Lady Monroe oder besser bekannt als Mutters Busenfreundin. Nach ihr wurde ich benannt, Lady Rose Monroe, einen schlimmeren Namensvetter konnte man nicht haben. Auch wenn die beiden sich untereinander immer mit Rose und Belinda nannten, so stellten sie sich gegenseitig immer formell vor. Für mich ist Rose immer nur Lady Monroe gewesen, anders hatte ich sie gar nicht nennen dürfen, genauso war Mum auch immer nur Mrs Dunkens für Benny gewesen.

Benny. Jetzt fehlten mir nicht nur die Idioten aus Amerika, sondern auch mein Beinahe-Bruder, dessen Wohnung ich freiwillig verlassen hatte. Ich hatte jeden freiwillig verlassen, nur um im Endeffekt wieder bei meinen Eltern einzuziehen. Mit einem gefälschten Lächeln stellte ich die Salatschüssel wieder ab, nahm die Tomate in den Mund, wischte meine Hände an meiner Hose ab und streckte Lady Monroe meine rechte Hand entgegen. Sie ergriff sie etwas angewidert. Überrascht murmelte ich ein knappes „Hallo".

»Im wievielten Monat bist du jetzt?«, fragte sie und tat auf äußerst interessiert. Lady Monroe hatte selbst fünf Kinder, von denen alle etwa in Klaus und Jacksons Alter waren. Ich war jedenfalls immer überall die jüngste gewesen, wenn man mal von meinen Cousinen aus Manchester absah. Und obwohl sie fünf Mal schwanger gewesen ist, konnte ich sie mir nicht so vorstellen. Sie war schlank, Leute wie sie und meine Mutter würden ihre Figur wohl als graziös bezeichnen. Jemand wie Lady Monroe war einfach immer schlank und immer perfekt frisiert. Ich hingegen sah heute aus wie der letzte Dreck.

Mal davon abgesehen, dass ich so fett war, dass man vermutlich Dinge auf meinem Bauch abstellen konnte, und diese dann darauf liegen bleiben würden, hatte ich meine Haare heute nur zu einem schrecklich ungeschickten Dutt zusammengeknotet und die blaue Farbe war so ausgewaschen, dass man mich eigentlich als grün haarig bezeichnen könnte. Ich trug bloß eine Jogginghose, die kurz hinter meinen Knien endete, noch dazu hatte ich meine Beine nicht rasiert und auf dem T-Shirt, das ich trug, prangte ein Fleck. Jeanette stand an der Tür, sie bewegte sich nicht und ich fühlte mich schrecklich alleine gelassen. Mum und ihre Freundin sahen mich beide an, als sei ich ein Alien. Ein furchtbar ekeliges Alien, das so eben aus dem Mülleimer gekrochen war.

»Verzeihung, Mutter, ich wusste nicht, dass wir heute Besuch erwarteten.« Mit diesen Worten drehte ich mich um und begann die Treppen nach oben zu erklimmen. Jeanette folgte mir.

»Miss Evelyn, Sie sollten mit dem Essen beginnen.«, riet sie mir.

Ich winkte bloß ab. Treppen waren schon für Nicht-Schwangere Menschen ein grauen, doch jetzt, in meinem Zustand, hatte ich das Gefühl, ich würde sieben Esel auf meinem Rücken hinauf schleppen. »Jeanette, ich werde schon zurechtkommen, holen Sie doch meinen Vater und sagen Sie meiner Mutter, dass ich bald wieder unten bin.« Die Frau nickte, eilte mir die Treppen voraus und ich sah ihr dabei zu, wie sie an die Tür zum Arbeitszimmer meines Vaters klopfte.

Ich beeilte mich um meinem Dad nicht über den Weg zu laufen, lächelte Jeanette noch einmal zu und verschwand schließlich in meinem Zimmer. In dem Jahr hatte sich hier nicht viel geändert, vermutlich waren meine Eltern davon ausgegangen, dass ich meine Sachen irgendwann abholen würde.

Oder eben zurück in diese Hölle ziehen würde. Wobei, damit hat vermutlich niemand gerechnet. Ich tauschte meine Jogginghose mühsam gegen schwarze Leggins und wechselte auch mein Shirt gegen ein sauberes. Meine Haare kämmte ich durch und versuchte sie dann wieder in einen Knoten zu zwingen. Es war schwer. Ich hatte noch nicht herausgefunden, wie ich mich mit diesem Bauch vorlehnen und meinen Dutt über Kopf machen konnte. Konzentriert schob ich immer wieder einzelne Strähnen hoch und versuchte die kurzen Haare beisammen zu kriegen. Gegen die Farbe konnte ich jetzt sowieso nichts machen.

An der Tür zögerte ich wieder. Essen mit Lady Monroe und meinen Eltern. Es war wie früher, Mum und ihre Freundin würden tratschen, Dad unbegeistert daneben sitzen und ich würde schweigsam essen. Ich hatte diese Abendessen immer gehasst, sie waren von allen die schlimmsten. Wobei es auch noch die gab, bei denen meine Eltern begannen sich zu streiten. Einen Moment lang, spielte ich mit dem Gedanken, einfach bei Jeanette in der Küche zu essen, doch das würde Mutter nicht passen. Es würde niemandem passen. Mit einem tiefen Atemzug öffnete ich die Tür und begann meinen Abstieg in die Hölle.




Couple in a roundabout wayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt