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Minho stand immer noch dicht hinter mir, während wir beide stumm auf die Rillen in der Mauer, die nun meinen Namen bildeten, starrten. Ich spürte seinen Atem stets im Nacken, was mir eine Gänsehaut bereitete, und ich wünschte mir, er würde wieder meine Hand halten. Noch war ich mir nicht so recht sicher, was ich von ihm halten sollte, aber eins war klar: Dieser Junge konnte einen unglaublich schnell in seinen Bann ziehen. Doch ich durfte mich nicht einfach einem im Grunde völlig fremden Jungen um den Hals werfen. Ich vertraute ihm zwar, dennoch musste ich vorsichtig sein. Denn ich wusste nicht, was es mit diesem Ort auf sich hatte. Vorerst sollte ich auf Abstand bleiben, ich durfte ihn nicht so nah an mich ran lassen.

Ich trat einen Schritt vor und drehte mich um, sodass ungefähr ein Meter zwischen uns lag. Er schaute mich mit einem Grinsen an. Ich erwiderte seinen Blick, versuchte aber nicht zu sehr zu lächeln. Zum Glück fiel es mir nicht allzu schwer. Nach ein paar Sekunden sagte er schließlich: „Gleich gibt es Abendessen, du hast bestimmt Hunger." Tatsächlich war ich ziemlich ausgehungert, und genau in diesem Moment fing mein Magen an zu knurren. Ich war so sehr damit beschäftigt gewesen, die ganzen Informationen über die Lichtung zu verarbeiten, dass ich das überhaupt nicht bemerkt hatte. Ich nickte hastig, woraufhin Minho's Grinsen nur noch breiter wurde. „Na, dann komm mal mit. Ich zeig dir die Küche."

Er führte mich in die Küche, die zwar klein war, aber alles bot, was man brauchte um eine anständige Mahlzeit zuzubereiten. Es gab einen großen Herd, eine Mikrowelle, eine Geschirrspülmaschine und ein paar Tische mit Stühlen. Alles wirkte alt und stark abgenutzt, aber trotzdem sauber. Als ich diese ganzen Alltagsgegenstände sah, fühlte es sich zum ersten Mal an, als würden Erinnerungen zurückkommen. Aber es fehlten Gesichter, Orte und Ereignisse. Ich konnte mich zwar daran erinnern, dass es solche Geräte gab, aber mir fehlte die Verbindung mit ihnen. Das ärgerte mich, weil es so dicht vor mir war, ich es aber nicht greifen konnte.

„Setz dich. Ich hol uns schon mal was", riss Minho's Stimme mich aus meinen Gedanken. Ich tat was er sagte und setzte mich an den erstbesten Tisch. Kurz darauf kam er mit zwei Bechern Wasser, zwei Tellern mit Kartoffelbrei, Erbsen und Würstchen und Besteck zurück. Er setzte sich gegenüber von mir und schob mir meinen Teller rüber. Gierig begann ich mein Essen zu verschlingen und stellte fest, dass es gar nicht so übel schmeckte, wie ich es mir vorgestellt hatte. „Langsam, langsam. Nachher kotzt du alles wieder aus", lachte Minho. Ich musste ebenfalls lachen, weshalb ich mich fast verschluckte. Das brachte mich allerdings nur noch mehr zum Lachen. Nachdem ich mich wieder halbwegs beruhigt hatte, fragte ich aus heiterem Himmel: „Woher kommt eigentlich der Strom?" „Keine Ahnung. Hauptsache wir haben welchen", antwortete Minho schulterzuckend. Ein paar Minuten lang sagte niemand etwas, wir saßen einfach schweigend da und aßen.

Als wir fertig waren, räumten wir schnell das Geschirr weg und verließen dann die Küche. Die Sonne ging bereits unter, und tauchte alles in ein abendlich orangenes Licht. Die hohen Mauern warfen lange Schatten auf die Lichtung. Es sah aus, als wären sie riesige Monster die alles und jeden verschlingen wollten.

Wir liefen quer über die Lichtung an den Waldrand. Dort ragte ein circa zehn Meter hoher Turm in die Höhe, an dessen Spitze sich eine Plattform befand. Minho, der bis jetzt vor mir gelaufen war, drehte sich um und sagte: „Ich hoffe du hast keine Höhenangst." Ehe ich antworten konnte, erklomm er die Holzleiter. Ich folgte ihm, und nach kurzer Zeit waren wir oben auf der Plattform. Minho setzte sich an den Rand und ließ die Füße hinunter baumeln. Ich setzte mich neben ihn und ließ meinen Blick über die Lichtung schweifen, die man von hier oben fast komplett überblicken konnte. Dennoch war der Turm lange nicht so hoch, dass man über die Mauern blicken könnte. Das war wahrscheinlich gut so, jedoch interessierte es mich schon auf eine gewisse Weise, wie es hinter diesen gigantischen Steinwänden aussah.

Ständig sah man Lichter hin und her laufen. Sie alle hatten etwas zu tun und waren ständig am Arbeiten. Wahrscheinlich hatte Newt recht. Das Arbeiten lenkte sie von ihrer Situation ab. Dann fiel mir auf einmal etwas auf: Ich sah kein einziges Mädchen.

„Minho?" „Ja?" „Bin ich eigentlich das einzige Mädchen?", sprach ich meine Vermutung aus. „Ja, seit zwei Jahren. Was meinst du, warum Alby so mies drauf ist? Er traut dir nicht über den Weg. Und ich denke Gally auch nicht. Aber der traut sowieso so gut wie niemandem. Um ihn brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Um Alby hingegen schon", erwiderte er. „Traust du mir?", fragte ich leicht zögerlich, denn ich hatte ein wenig Angst vor der Antwort. Ich wollte unbedingt, dass er mir vertraute. Denn ich brauchte mindestens einen Verbündeten hier, wenn ich mich hier durchschlagen wollte. Auch wenn ich Newt schon längst dazu gezählt hatte. Schon seit unserem Gespräch heute Morgen, kurz nachdem ich aufgewacht war. Dieses kurze Gespräch hatte mir gereicht, um ihm zu vertrauen. Und ihm offensichtlich auch.

Minho's Stimme riss mich aus meinen Gedanken, und erst jetzt merkte ich, dass er mich die ganze Zeit angeschaut hatte. „Ja, ich vertraue dir. Und ich verspreche dir, dass ich nicht zulassen werde, dass er dich bestraft. Denn du kannst nichts dafür, genauso wenig wie wir alle." Ich wusste, dass er es ernst meinte. Er würde es nicht zulassen, und das lag nicht nur an mir. Ich lächelte und er erwiderte es. Noch nie hatte ich nach so kurzer Zeit eine solche Vertrautheit zu einem Menschen gespürt.

Die Sonne war mittlerweile schon untergegangen, nur der tieforangene Himmel mit rötlich-violetten Striemen wies noch letzte Spuren von ihr auf. Dann plötzlich loderte eine helle Flamme auf. Die Lichter hatten das Holzgestell, was sie eben aufgestapelt hatten, entzündet. Alle versammelten sich darum.

Ich blickte Minho fragend an. „Lagerfeuer", antwortete er nur, „So ne Art Frischlings Party." „Auch wenn der Frischling ein Mädchen ist?", fragte ich belustigt. „Einige Jungs sehen das wahrscheinlich erst recht als Grund zum Feiern", lachte er. „Na dann lass uns mal runtergehen."

Wir drängten uns durch die Menge, bis auf einmal Newt mit zwei Gläsern, in denen eine gelbliche Flüssigkeit umher schwappte, vor uns stand. Er drückte mir eins der Gläser in die Hand und ich schaute ihn skeptisch an. „Was ist das?" „Hat Gally gebraut. Geschäftsgeheimnis", erwiderte er und nahm einen Schluck von seinem Glas, offensichtlich nicht der erste, das sah man seinen Augen an. Sie funkelten regelrecht, wie das Feuer. Schließlich traute ich mich und nahm ebenfalls einen Schluck. Es schmeckte total widerlich, ich konnte noch nicht mal sagen, wonach es schmeckte. Trotzdem schluckte ich es runter und verzog dabei leicht angeekelt das Gesicht. Ich konnte Minho's Grinsen förmlich spüren. Newt lächelte mich an und rief: „Auf unseren Frischling, Claire!" „Auf unseren Frischling, Claire!", wiederholten alle im Chor und hoben ihre Gläser. Ich hob meins ebenfalls und exte dann den Rest, woraufhin alle jubelten. Jetzt hatte ich das Gefühl, einer von ihnen zu sein. Ein waschechter Lichter.


Just Human ⎡ The Maze Runner ⎦Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt