14. Akt - Die Wahrheit

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Beinah alle Anwesenden hatten sich um den großen Pool vor dem Gebäude versammelt. Es war ein lauer Sommerabend und gegen eine Abkühlung hätte ich eigentlich auch nichts einzuwenden gehabt. Stattdessen stand ich jedoch am Rand - noch immer angezogen natürlich – und beobachtet neidisch die anderen. „Brauchst du eine Badehose?", fragte Lewis, der sich bereits umgezogenen hatte. Ich schüttelte den Kopf. „Alles okay?", wollte er besorgt wissen. Doch ehe ich antworten konnte, erschien Riley mit dem Anhängsel namens Tess vor uns. „Kommst du, Lewis?" Natürlich schenkte er mir keine Beachtung. „Geh schon", forderte ich Lewis lächelnd auf. Seufzend ließ ich mich auf einen Stuhl nieder, während Lewis zusammen mit Riley und Tess in den Pool stieg. Auch Julie und ihre Freundin schienen Spaß zu haben. Sie lachten ununterbrochen und hielten bloß inne, um sich kurz zu unterhalten. Als ich gerade mit dem Gedanken spielte, einfach ins Zimmer zu gehen, nahm neben mir auf einem Stuhl Nick Platz. „Warum gehst du nicht ins Wasser?", fragte er hämisch grinsend. Ich machte mir nicht die Mühe, auf diese sinnlose Frage zu antworten. „Naja, offenbar hast du keine Lust, dich mit mir zu unterhalten", meinte Nick und stand auf. Stirnrunzelnd sah ich zu ihm hoch. Warum gab er so schnell auf? „Ich habe auch eine viel bessere Idee." Sein Grinsen kehrte zurück und ich bekam ein sehr schlechtes Gefühl. Schnell richtete ich mich auch auf und wollte an ihm vorbei hasten, doch er hielt mich am Arm zurück. „Lass das!", fauchte ich. Panik machte sich in mir breit und ich hätte am liebsten um Hilfe geschrien. Doch ich hatte zu sehr Angst, dass er meine Tarnung auffliegen ließ. Nick zog mich jedoch ohne ein Wort in Richtung Pool. „Hey, was machst du?", fragte ich nun etwas panischer. Und als mir bewusst wurde, was Nick mit mir vorhatte, war es schon zu spät. Mit einer schwungvollen Bewegung stieß Nick mich zum Poolrand. Ich konnte mein Gleichgewicht nicht mehr halten und stürzte seitwärts ins Wasser. Für einen Moment herrschte Stille. In meinen Ohren rauschte es leise und ich hielt meine Augen fest geschlossen. Bloß nicht auftauchen. Ich vernahm Rufe und merkte, wie die Luft knapp wurde. Widerwillig schwamm ich nun doch an die Oberfläche. Prustend und hustend tauchte ich auf. Die Jeanshose hing schwer an meinen Beinen und das Hemd klebte an meiner Brust. Als ich an mir herunter sah, sah ich, dass sich meine Oberweite trotz Brustband und kleiner Körbchengröße eindeutig abzeichnete. Und dann entdeckte ich mit Entsetzten etwas Haariges neben mir im Wasser. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und ich tastete mit zitternden Händen meinen Kopf ab. Das Haarnetz saß noch an seinem Platz, war nun jedoch völlig überflüssig. Ich riss es reflexartig vom Kopf, ohne darüber nachzudenken, was das nun zu bedeuten hatte. Erst als ich meinen Blick aufrichtete und in die entsetzen Gesichter aller Anwesenden – abgesehen von ein paar Ausnahmen, die meinen Unfall nicht bemerkt hatten – starrte, wurde ich mir langsam darüber bewusst, was eigentlich gerade passiert war. Meine Tarnung war aufgeflogen.

„Das gibt's doch nicht", rief Nick völlig aufgebracht. Eine gute schauspielerische Leistung war dies jedoch nicht. Vor allem weil er hämisch grinste und mich mit einem Blick voller Genugtuung betrachtete. Für ihn interessierte ich mich jedoch momentan nicht. Mit stechendem Herzen fing ich die Blicke von Riley und Lewis auf. Beide starrten mich perplex und mit leicht geöffneten Mündern an. Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. Am liebsten wäre ich wieder untergetaucht und nie wieder aufgetaucht. „Oh mein Gott", hörte ich Julie flüstern. Sie klammerte sich an ihre Freundin und wandte den Blick sofort ab, als ich mich zu ihr umdrehte. Erneut sah ich zu Riley und Lewis, die sich noch immer nicht rührten. Schließlich beschloss ich, dass es keinen Zweck hatte, hier bloß herumzustehen und auf irgendeine Reaktion zu warten. Ich griff nach der Perücke und kämpfte mich durch das Wasser zu einer Poolleiter. Ich kletterte daran hoch und stand direkt vor Nick. „Was hast du jetzt vor?", fragte er grinsend. Ich schwieg und lief an ihm vorbei. Als er mir jedoch folgte, drehte ich mich zu ihm um und schubste ihn in den Pool. Da er damit nicht gerechnet hatte, musste ich mich nicht einmal sonderlich anstrengen. Er stolperte rückwärts und platsche mit einem überraschten Laut ins Wasser.

Ich verschwand im Inneren des Gebäudes und rannte geradewegs zu unserem Zimmer. Dort fummelte ich den Schlüssel aus meiner durchnässten Hose. Im Zimmer zog ich mir sofort die Klamotten aus und sprang unter die Dusche. Erst als ich im Schlafanzug, ohne Brustband und Perücke auf meinem Bett saß, wurde mir wieder bewusst, was passiert war. Ich legte mich auf mein Bett und starrte an die Decke. Ich war weder wütend noch traurig. Ich hatte bloß keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen sollte. War das Projekt nun für mich vorbei? Würden die Lehrer überhaupt davon erfahren? Wollte ich überhaupt hier bleiben?

Die Tür ging auf. Ich kniff die Augen zusammen und tat so, als würde ich schlafen. „Robin?" Mit klopfendem Herzen versuchte ich reglos liegen zu bleiben. Lewis war hineingekommen, doch ich fühlte mich noch nicht bereit mit ihm zu reden. Plötzlich hörte ich Schritte, die schnell auf mein Bett zukamen. „Robin!", ertönte es. „Hey!" Jemand rüttelte mich an den Schultern. „Riley, er..." Lewis brach ab. Er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass ich ein Mädchen bin. Es ist bestimmt ziemlich erschreckend, so etwas zu erfahren. „Verdammt. Ich weiß, dass du nicht schläfst", rief Riley. Meine Lippen begannen zu zittern und ich öffnete langsam meine Augen. Riley starrte wütend und auch ein wenig verzweifelt auf mich herab. Hinter ihm stand Lewis, der noch immer geschockt aussah.

„Wieso?", fragte Riley schlicht und schüttelte langsam den Kopf. Ich biss mir auf die Lippe, um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. „So war das alles nicht geplant", flüsterte ich. „Was?", fuhr Riley mich an. „Was für ein Plan?" Ich richtete mich auf und setzte mich im Schneidersitz auf mein Bett. „Bei dem Projekt waren für Mädchen keine Plätze mehr frei. Also habe ich mich als Junge verkleidet. Keine Ahnung, was mich da geritten hat. Ich wusste nicht, dass das alles so ausarteten würde. Es war niemals meine Absicht, jemanden zu verletzen. Deshalb musste ich auch ständig lügen. Ich bin offensichtlich nicht schwul und dass mit der Freundin habe ich nur gesagt, damit es glaubwürdiger wird." Ich hob den Blick und sah Riley in die blauen Augen. Zum Glück ließ er mich ausreden. Auch Lewis blieb stumm und ließ sich langsam auf sein Bett gegenüber von mir sinken. „Nick hat mich aber wirklich erpresst. Er hat mir jedoch nicht mit Prügel oder Julie gedroht, sondern mit dem Verraten meiner Tarnung. Er hat es durch meinen Bruder erfahren, den er angerufen hat, um irgendetwas über mich in der Hand zu haben. Nick war so wütend auf mich, weil ich Julie gerettet habe. Seitdem hasst er mich offenbar." Ich seufzte und holte kurz Luft. „Mit Julie muss ich auch noch reden. Und wahrscheinlich mit Sven oder sogar der Chefin des Projektes." Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. „Dann kann ich wohl meine Koffer packen."

„Du bist unglaublich", hörte ich Riley sagen. Ich blickte erneut auf. „Wie um alles in der Welt, kommt man auf solch eine Idee?", fragte er und klang glücklicherweise nicht mehr ganz so wütend. „Wenn man die Schauspielerei liebt", meinte ich. „Du müsstest das doch am besten wissen." Ich lächelte zaghaft. Riley ließ sich neben Lewis fallen und schüttelte noch einmal fassungslos den Kopf. „Ich hätte ja mit allem gerechnet, aber nicht damit", sagte Riley. „Deine Scheinfreundin auf dem Foto, warst du", stellte er fest. „Und wir haben dich nicht erkannt." Er lachte kurz auf.

„Seid ihr jetzt sauer auf mich?", fragte ich kleinlaut. Lewis blickte mir traurig in die Augen. Unwillkürlich stand ich auf, beugte mich zu ihm herunter und umarmte ihn. „Es tut mir so leid. Ich hätte ja nicht ahnen können, dass ich hier so gute Freunde finde." Lächelnd löste ich mich von Lewis. „Du bist wirklich ein toller Kerl." „Du auch", meinte Riley. Ich fing an zu grinsen, wurde jedoch schnell wieder ernst. „Also verzeiht ihr mir? Auch wenn ich morgen wahrscheinlich heimfahre, fände ich es wichtig, dass wir uns vertragen." „Okay", meinte Lewis leise und lächelte leicht. Offenbar mochte er mich wirklich ein wenig mehr. Die Tatsache, dass ich nun doch ein Mädchen war, verwirrte ihn vermutlich noch mehr. „Immerhin klären sich jetzt alle merkwürdigen Dinge", sagte Riley. „Ich sehe keinen Grund wütend zu sein. Du hast das ja nicht gemacht, um Leute zu verwirren. Aber ich glaube, die Lehrer werden das anders sehen." Durch Rileys Worte fiel mir ein riesiger Stein vom Herzen. „Und ich finde, du hast das echt überzeugend gemacht. Bis auf ein paar Kleinigkeiten warst du ein überzeugender Junge", fügte er schmunzelnd hinzu. Ich konnte mich nicht zurückhalten. Erleichtert und überschwänglich fiel ich ihm in die Arme, so dass Riley nach hinten auf das Bett fiel und ich auf ihn stürzte. Schnell rappelte ich mich hoch und wischte mir unwirsch die Haare aus der Stirn. Riley richtete sich lachend auf. Als unsere Blicke sich trafen, verstummte er jedoch und sah zur Seite. „Darfst du überhaupt noch hier schlafen?", fragte Lewis ein wenig besorgt. Ich zuckte mit den Schultern. „Auf diese eine Nacht kommt es jetzt auch nicht an."

If I Were A BoyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt