20. Akt - Der Neubeginn

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Einen Monat später

„Daran musst du aber noch arbeiten." Frau Klein, unsere Tanzlehrerin, fixierte mich eindringlich. Eine junge, dynamische Frau mit langen blonden Haaren. Sie war jedoch ziemlich streng und sah jeden noch so kleinen Fehler. „Ich weiß", antwortete ich. Schwer atmend lehnte ich mich an die Ballettstange. Tanzen konnte ich. Hip Hop fiel mir viel leichter und ich war auch sonst nicht unsportlich. Doch Ballett war einfach nicht mein Ding. Gelenkig war ich nun mal nicht. Dumm nur, dass wir darin an der Schauspielschule auch unterrichtet wurden.

Ich spürte, wie Julie mir mitleidige Blicke zuwarf. Sie hatte früher Ballettunterricht, weswegen sie natürlich keine Probleme damit hatte. Frau Klein kam um die Stange herum und befahl mir, mein Bein zu heben. Ich unterdrückte einen Seufzer und tat wie befohlen. Sie fing es auf und drückte es in Richtung meines Rückens. Ich gab ein schmerzerfülltes Stöhnen von mir, dass sie zunächst ignorierte. „Stopp!", rief ich schließlich, was sie endlich dazu brachte, mein Bein loszulassen. Ruckartig drehte ich mich zu ihr um. „Hören Sie! Ich bin hier, um Schauspiel zu studieren und wenn ich keine vernünftigen Ballettszenen tanzen kann, dann ist das eben so." Frau Klein hob entsetzt die perfekt gezupften Augenbrauen. „Du bist eine Stipendiatin. So hast du dich nicht zu verhalten. Und außerdem ist dieses Unterrichtsfach wichtig. Alle Fächer sind das. Es wäre angemessen, wenn du dein Verhalten entsprechend änderst." Ich hätte einfach weiter protestieren können. Aber im Endeffekt würde immer sie diejenige sein, die gewinnt. „Entschuldigung", murmelte ich deshalb und senkte reuevoll den Kopf. Die Schulglocke verkündete das Ende der Stunde. Erleichtert verließ ich gemeinsam mit Julie den Raum.

„Du wirst von Tag zu Tag besser", versuchte sie mich aufzuheitern. „Danke", sagte ich bloß und lächelte halbherzig. Wir kamen in der Kantine an, wo wir uns neben Lewis an den Tisch setzten.

„Wie läuft's?", wollte er wissen und schob sich seine Gabel in den Mund. Ich zuckte mit den Schultern und Julie antwortete an meiner Stelle. „Frau Klein macht ihr das Leben schwer, aber ich finde sie gar nicht so schlecht." „Können wir über etwas anderes reden?", fragte ich mürrisch. Lewis und Julie wandten sich stumm ihrem Essen zu. Ich tat es ihnen nach und versuchte, mir meine Stimmung nicht durch diese paar Stunden Ballett zu vermiesen. Es war trotzdem ein Traum hier sein zu dürfen. Das hier war die beste Schule in der Stadt und vielleicht sogar in Deutschland. Sie hatte schon viele talentierte Schauspieler hervorgebracht, von denen manche sogar kleine Rollen in Hollywood bekommen haben. Das war auch mein Traum, aber bis dahin war es noch ein langer Weg.

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„Du hast ein Leben", sagte Alice und ließ sich neben mir aufs Bett fallen. Ich legte den Laptop beiseite und sah sie fragend an. „Na ja, du musst kaum lernen und arbeiten musst wegen dem Stipendium auch nicht. Dein Studium wird dir einfach bezahlt." Ich lachte leise. „Also erstens muss ich auch lernen, da wir auch Theorie haben oder Text lernen müssen. Ballett ist auch etwas, was ich eigentlich üben müsste." Ich verzog das Gesicht. „Und das Stipendium habe ich auch nicht einfach so bekommen. Schon vergessen, dass ich als Junge durch die Gegend gelaufen bin." Ich zwinkerte ihr zu.

Sam rief Alice von unten. Seufzend stand sie auf und warf mir einen entschuldigenden Blick zu. „Ich wollte noch mit Sammy einkaufen gehen. Brauchst du was?" Ich schüttelte den Kopf und widmete mich wieder meinen Laptop, auf dem ich gerade nach Videos zum Ballett üben suchte. Nachdem Alice das Zimmer verlassen hatte, schnappte ich mir mein Handy und tat das, was ich schon die ganze Zeit vorhatte, aber ständig aufgeschoben hatte. Ich suchte bei meinen Kontakten nach Rileys Nummer. Mein Finger schwebte über der Anruftaste. Natürlich hatte ich Lewis schon gefragt, was Riley momentan tat. Doch er konnte mir keine genaue Auskunft geben, da er selten mit Riley kommunizierte. Wenn er es doch tat, erzählte Riley nicht viel. Wir wussten bloß, dass es mit seinen Eltern immer noch schwierig war.

Aus irgendeinem Grund hatte ich Angst vor seiner Reaktion, wenn ich mich nach einem Monat wieder bei ihm melde. Doch je länger ich es herauszögerte, desto schwieriger würde es werden. Ich kniff die Augen zusammen und berührte den Touchscreen leicht. Als ich die Augen wieder öffnete, wählte mein Handy bereits. Nervös hielt ich es mir ans Ohr und wartete. Nachdem es fünf Mal geklingelt hatte, meldete sich Rileys tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung. „Hier ist Robin", sagte ich eilig. Nach einem kurzen Zögern, begrüßte er mich. „Hey, was gibt's?" Ich fummelte aufgeregt an meiner Bettdecke herum. „Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht." „Ganz gut und dir?" Auf Smalltalk konnte ich eigentlich verzichten. Trotzdem antwortete ich ihm lächelnd. „Mir geht's gut. Die Schule ist echt toll." Ich erzählte ihm vom Unterricht, den Lehrern und meinen Mitschülern. Ich konnte es auch nicht lassen, über Frau Klein zu lästern und das Ballett zu verfluchen. Riley lachte. Ich hatte sein Lachen wirklich vermisst. Er wurde aber schnell wieder ernst. „Das klingt wirklich toll, aber ich habe gerade eigentlich keine Zeit für ein Gespräch." „Oh", machte ich ein wenig enttäuscht. „Das hättest du doch früher sagen können." „Du hast so schön erzählt", meinte Riley und ich hörte deutlich sein Grinsen. Bevor ich es mir anders überlegte, sagte ich schnell, was ich unbedingt loswerden musste. „Ich wollte eigentlich wissen, was du gerade machst. Und dann erzähle ich Volldepp nur von mir." Es herrschte kurz Stille. „Es ist gerade schlecht. Aber das kann ich noch schnell klären. Ich mache gar nichts. Dafür habe ich momentan keine Zeit. Aber ich versuche, eine Stelle in einem Restaurant oder in einer Bar zu bekommen, um wenigstens ein wenig Geld zu verdienen." „Wieso hast du keine Zeit? Und können wir uns demnächst mal treffen? Ich vermisse dich." Letzteres war mir einfach so herausgerutscht. Ich biss mir auf die Lippe und wartete mit pochendem Herzen auf Rileys Reaktion. „Ich melde mich nochmal bei euch. Aber jetzt muss ich auflegen. Bis dann." Ein Piepton ertönte und ich ließ das Handy langsam sinken. Er hatte gar nicht auf meine letzten Worte reagiert. Ein wenig enttäuscht legte ich mein Handy beiseite und fragte mich, warum er offenbar so wenig Zeit hatte, dass er nicht einmal zehn Minuten telefonieren konnte. Und wie vorausgesagt, kümmerte er sich überhaupt nicht um seine Schauspielkarriere. Vermutlich wegen seiner Eltern, die ja offenbar ein Problemfall waren. Aber es wäre ungerecht, wenn er wegen ihnen keine vernünftige Ausbildung abschließen konnte.

Ich öffnete den Laptop und suchte nach anderen Alternativen, in Berlin Schauspiel zu studieren und speicherte einige in meinem Handy ab. Dann schrieb ich mir noch ein paar Bars, Kneipen und Restaurants auf, die in Rileys Nähe lagen. Von Lewis hatte ich damals seine Adresse bekommen. Vielleicht war ich auch ein wenig übereifrig. Aber Riley war mein Freund und was sprach dagegen, ihn ein bisschen zu unterstützen?

If I Were A BoyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt