Wenn eine Sucht zur Sucht wird

Kapitel 2/3

Auch am nächsten Tag blieb Lina von der Schule zu Hause. Sie wollte niemanden sehen. Es war ihr egal, was andere von ihr dachten. Das einzige, für das sie sich noch interessierte, war ihr Körper. Auch nach dem Frühstück erbrach sich Lina wieder. Sie fühlte sich frei und dünner. Ihre Waage, die zuvor verstaubt im Regal neben der Badewanne stand, war jetzt im Dauereinsatz.
Lina führte jetzt auch noch nebenbei Protokoll, zählte Kalorien und trieb Sport. Ihr Speiseplan für den heutigen Tag: Einen Apfel. Diese Essstörung wurde langsam zur Sucht. Erst 120kcal, dann 100kcal und so weiter. Auch das Mittag- und Abendessen erbrach Lina wieder. Zwischendurch trank sie Wasser. "Wasser hat kaum Kalorien, also kann ich nicht zunehmen", sagte sie sich selbst. Sie wurde immer blasser. Auch ihrer Mutter fiel das am späten Abend auf und forderte, mit ihr zum Arzt zu gehen. "Nein Mama, mir geht es gut, ich muss mich nur noch von der Grippe erholen", erwiderte Lina. "Also gut, aber wenn es schlechter wird, gehen wir!", forderte ihre Mutter. Es ist bereits 23Uhr, morgen muss sie wieder in die Schule. Sie fragte sich, ob Jo auffallen wird, dass sie bereits 300 Gramm abgenommen hat. Mittlerweile ist sich Lina einhundert Prozent sicher, dass sie mehr für Jo empfindet, als nur Freundschaft. Nicht umsonst will sie ihm gefallen. Lina grübelte noch etwas länger weiter und malte sich die schönsten Szenarien aus: Abends im Bett kuscheln, Morgens zusammen aufwachen und zusammen Lachen. Ja lachen, dass wär schön, Lina lachte schon lange nicht mehr. Manchmal kommt es ihr vor, als hätte sie das Lachen verlernt. Das letzte Mal lachte sie so wirklich an Weihnachten vor drei Jahren, ihr Vater erzählte ihr eine witzige Geschichte. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Lina ging noch ein letztes mal ins Bad und wog sich. Gestern wog sie 88,6 Kilogramm und jetzt 88,2 Kilogramm. Sofort schrieb sie den Verlust von 400 Gramm in ihr Protokoll. Sie war wieder stolz auf sich - das erste Mal seit langem.