Lina wusste nicht, auf was sie sich da eingelassen hat. Sie hatte drei Schnittwunden auf ihrem Arm, direkt nebeneinander. Ab heute fing das Versteckspiel an. Das Tragen von Pullovern im Sommer. Das einen auf Krank machen, wenn man wieder einmal den Sportunterricht vergessen hatte. Und das Aufpassen, dass niemand diese Wunden sieht. Lina war bewusst, dass niemand etwas von ihrer Krankheit mitbekommen darf. Doch dieses Gefühl, das sie während dem Schneiden hatte, war so wunderschön. Es zeigte ihr, dass sie doch noch nicht komplett gefühlskalt war. Ja, ja sie war wirklich noch am Leben. Nach vielen verschiedenen Gefühlen der letzten Stunden, musste Lina sich für die Schule fertig machen. Geschlafen hatte sie keine Sekunde und ihre Augenringe bewiesen das auch sehr deutlich. Ab jetzt war sich Lina sicher: Ihre Sucht wurde zu einer Sucht. Sie wollte sich wieder schneiden, sie wollte das Gefühl wieder erleben. Sie wollte diese Sucht wieder. Ihre Sucht zur Selbstverletzung wurde eben ihre Sucht, und sie liebte es.
In der Schule angekommen kontrollierte sie noch einmal ihren Arm ob auch wirklich von außen nichts zu sehen war, dann ging sie in ihre Klasse. Schiefe Blicke von allen Seiten - das kannte sie schon. Doch Jo war heute anders. Er saß alleine an seinem Tisch und starrte aus dem Fenster. Sonst stand er immer bei den Mädchen. Lina raffte sich auf, stand auf und ging zu ihm. Noch einmal holte sie tief Luft und sprach:"Hey.. Ich bin Lina, wir haben noch nie miteinander gesprochen seitdem du hier bist." Jo schaute sie an und fing an zu grinsen. "Ja, das stimmt haha, ich bin Jo", sagte er mit rauer Stimme. Linas Bauch fing an zu kribbeln. Es kam nicht einmal ein dummer Kommentar zu ihrem Aussehen, wie sonst immer von anderen Jungs. "Wie gehts dir?", fragte Lina. Jo antwortete: "Gut und selbst?" Lina überlegte kurz, was sie sagen solle, denn gut ging es ihr nicht. Aber sie kann auch micht einfach sagen, dass es ihr schlecht geht. Immerhin will sie, dass niemand etwas von ihren Problemen mitbekommt. "Auch gut", antwortete sie schließlich. Der Gong ertönte aus dem Lautsprecher und unterbrach das Gespräch von Jo und ihr. Lina grinste ihn an und ging zurück zu ihrem Platz. Ihre Freundinnen guckten sie eifersüchtig an, weil sie mit Jo geredet hatte. Doch das interessierte sie nicht mehr. Im Moment war sie einfach nur überglücklich mit ihm gesprochen zu haben. Das erste Mal seit langem hat sie sich wieder getraut, jemanden anzusprechen. Lina war stolz auf sich.
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Wenn eine Sucht zur Sucht wird
Teen FictionLina ist 15 und geht an eine Realschule in Bayern. Sie ist übergewichtig und entspricht somit nicht dem Schönheitsideal der heutigen Gesellschaft. Oftmals wird sie ausgegrenzt und verspottet, Freunde hat sie keine. Ihre Gedanken und Taten bringen si...