Kapitel 3/4

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Ohne auch nur ein Wort mit ihrer Mutter Tamara zu wechseln, ging sie zurück nach oben. Sie vermisste Jo und das machte ihr Angst. Eigentlich wollte sie niemanden mehr an sich ran lassen, doch bei ihm war es anders. Wenn er in der Nähe ist, fühlt sie sich stärker als jemals zuvor. Das letzte Mal fühlte sie sich bei ihrem Vater so geborgen. Draußen ist es bereits dunkel geworden, der Wind der letzten Nacht ist verschwunden und es schneite. Es schneite große, weiße Schneeflocken. Diese Schneeflocken erinnerten Lina an ein Gedicht, das ihr Vater ihr immer im Winter vorgelesen hatte: Frau Holle. Und da merkte Lina erst wieder, wie sehr sie unter dem Verlust ihres Vaters doch leidet. Langsam füllte sich ihr Körper wieder mit Trauer. Sie fühlte diese tiefen und starken Schmerzen in ihrer bereits schwarz eingefärbten Seele. Es fühlt sich an, als würde sich ihr Körper gegen etwas wehren, was nicht da ist. Diese Leere in ihr kann man nicht mehr füllen. Sie ist da und wird nie wieder weg sein. Langsam merkte Lina, wie sehr diese Depression ihr Leben verändert, und das auf kürzeste Zeit. Bisher konnte sie nie verstehen, warum ihr Vater sich das Leben nahm. Doch jetzt weiß sie, wie sehr diese Schmerzen an einem zerren, wie sehr sie einen unschuldigen Menschen zu Boden drücken können.
Auch diese Nacht konnte sie kaum schlafen, zu laut war ihr Kopf. Zu viele Gedanken schwirrten in ihrem Zimmer herum. Sie erinnerte sich wieder an das selbstverletzende Verhalten oder auch an das "Ritzen" und "Schneiden", wie es auch immer genannt wird. Sie wusste einfach nicht, was sie gegen ihre innerlichen Schmerzen tun sollte, um sie endlich zum Schweigen zu bringen. Ihrer Mutter wollte sie nichts davon erzählen, sie schämte sich viel zu sehr für ihre Krankheit. Außerdem hatte sie Angst, dass Tamara das alles nicht verstehen wird.
Lina stand auf, ihre Knie wackelten, als wären sie aus Wackelpudding. Noch immer hatte sie einen Muskelkater vom Laufen. Sie schlich sich langsam an dem Schlafzimmer ihrer Mutter vorbei, öffnete die Wohnungstür, tapste die Treppenstufen hinunter zur Haustür und ging nach draußen. Sie hatte keine Schuhe an, auch keine Socken und nur ein dünnes Nachthemd. Doch Lina war so aufgeregt, dass sie diese Kälte kaum, spürte. Ihre Füße unterkühlten, doch das war ihr egal. "Dann hätten sie jetzt wenigstens dieselbe Temperatur wie mein Herz", sagte Lina still.
Sie erreichte die Garagentür, sie wusste, dass auf der alten Werkbank ihres Vaters eine Schachtel mit Ersatzklingen lag. Schnell nahm sie eine heraus und verschwindete wieder in ihr warmes Zimmer. Ihr Körper war voller Adrenalin, sie nahm ihre Umgebung nicht mehr wahr. Langsam setzte sie die eiskalte Klinge auf ihrem Unterarm an und zog. Sie merkte wie plötzlich der komplette Schmerz für einen Augenblick aus ihrem Körper flüchtete.
Ihr warmes Blut war tiefrot. Nur langsam lief es den eiskalten Arm hinunter und tropfte schließlich auf den braunen Holzboden. Sie fühlte sich nicht schlecht, im Gegenteil, sie fühlte sich so leicht. Für einen Moment sogar frei.

Wenn eine Sucht zur Sucht wirdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt