Kapitel 3/1

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Nachdem sie die erste Schulstunde geschafft hatte, wollte sie zu Jo. Sie war sich sicher, dass sie ihn liebt und sie wollte unbedingt seine Stimme hören. Sie wollte ihm in seine strahlend blauen Augen sehen und ihm durch sein Haar streicheln. Sie wollte, dass er ihr gehört. Lina hasste es, wenn andere mit ihm redeten, sofort verspürte sie diesen Hass. Oder war es Eifersucht? Lina kannte dieses Gefühl bisher noch nicht. Noch nie war sie verliebt. Doch ehe sie den Mut aufgebracht hat, überhaupt von ihrem Platz aufzustehen, ertönte der Stundengong. Jetzt hatten sie Kunst, ihr Lieblingsfach. Herr Grau teilte die Kunstblätter der letzten Stunde aus, auf denen er eine rote Note auf die Rückseite schrieb. Lina bekam für ihr Herz eine Eins mit der Bemerkung: "Du hast recht, Narben sind das Einzige, die Stärke beweisen können." Lina freute sich sehr, sofort nach der Schule, noch bevor ihre Mutter zur Arbeit musste, zeigte sie ihr das Bild. Sie umarmte sie und flüsterte Lina ein leises "Ich liebe dich" ins Ohr. Lina war sprachlos, schon lange hatte sie das nicht mehr von ihrer Mutter gehört. Doch diese Freude hielt nicht sehr lange an. Als ihre Mutter das Haus verlassen hat, ging sie durch den Gang in ihr Zimmer. Dabei musste sie an einem Spiegel vorbei. Sie blieb stehen. "Das ist also das Ergebnis von zwei Tagen hungern?!", fragte sich Lina zornig. Sie schaute sich an, am liebsten wollte sie gegen den Spiegel treten. Sie wollte doch nur dünn sein, sie wollte endlich so aussehen wie andere aus ihrer Schule. Sie hasst ihren Körper so sehr, dass sie sich wieder übergibt. Danach stellte sie sich auf die Waage. Kaum ein Unterschied zum Vortag: 419 Gramm weniger. Dennoch schrieb sie diese 19 Gramm in ihr Protokoll. "Immerhin zählt doch jedes Gramm, welches nicht mehr auf meinen Knochen liegt", sagte sie sich. Sie entschloss sich, eine Runde zu Joggen. Sie kramte ihre Sportschuhe aus dem Schuhregal, holte ihr Handy und ihre Kopfhörer aus ihrem Zimmer und lief los. Ihr Ziel war der Nachbarort Habelsbach und wieder zurück. -7 Grad zeigte es auf dem Thermometer an. Doch Lina interessierte das nicht, sie interessierte nur ihr Gewicht. Als Motivation guckte sie sich immer wieder ein Bild eines Models auf ihrem Handy an. Sie lief über Wiesen, durch Wälder und über Brücken, welche einen Fluss überspannten. Immer wieder musste sie eine kleine Pause machen, ihr Gesicht von den Schweißperlen befreien. Doch aufgeben kam für Lina nicht in Frage. Tapfer lief sie Meter für Meter weiter, sie sah schon Habelsbach.
Nurnoch ein paar Meter trennten Lina von dem gelben Ortsschild. Sie war erschöpft und ausgepowert. Doch sie musste den ganzen Weg ja wieder zurücklaufen.
Am Ortsschild angekommen, trank sie schnell kühles Wasser aus ihrer Sportflasche, atmete kurz tief durch und lief den ganzen Weg wieder zurück. Der Rückweg kam ihr fast drei Mal so lange vor, wie der Hinweg. Doch tapfer kämpfte sie sich durch die weiße Winterwelt. Hin und wieder sah sie ein Rentier, das von einem Wald in den anderen lief.

Wenn eine Sucht zur Sucht wirdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt