Kapitel 6/4

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"Diese Welt ist so grauenvoll", dachte sich Lina in Gedanken. Warum sind Menschen so unfair gegenüber anderen? Warum achtet jeder nur noch auf sich selbst? Tausende Fragen schossen ihr durch den Kopf. Jo schlief tief und fest, doch sie wachte mitten in der Nacht auf. Ihr war heiß und kalt gleichzeitig, ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Mit kleinen Augen starrte sie an ihre Zimmerdecke, sie fühlte wieder, wie diese unendlich stille Leere sich in ihrem Körper ausbreitete. Man kann nichts dagegen tun, man muss sich wehrlos ergeben. Jeder Kampf ist verloren, man kann nicht gewinnen. Diese Krankheit gewinnt immer, sie wird immer einen neuen Weg finden. Sie wird noch tausende Generationen überleben. Niemand kann sie aufhalten. Linas Kopf tobte vor düsteren Gedanken. Sie hatte eine riesen Angst vor ihrer Zukunft. Wie soll sie jemals arbeiten, wenn sie schon jetzt kaum belastbar ist? Wie soll sie an die Außenwelt treten, wenn sie sich für ihr Aussehen schämt? Wie soll das nur funktionieren? Ehrlich gesagt wollte Lina darüber noch gar nicht nachdenken. Ihre Zukunftsplanungen schob sie immer auf, sie verdrängte die Vorschläge anderer. Am liebsten würde sie den Rest ihres Lebens einfach zu Hause in ihrem Bett neben Jo verbringen. Einfach ohne Sorgen leben, das wär's. Wer stellt schon gerne ein dickes, hässliches Mädchen ein? Außerdem steht ihr ihre Krankheit im Weg. Jeder bevorzugt gesunde Arbeitskräfte. Sie hätte niemals eine Chance gegen die anderen, gegen die "Gesunden". Warscheinlich wär sie sogar als Putzkraft überfordert. Lina versuchte immer, sich eine Depression bildlich vorzustellen. Sie vergleichte sie immer wieder mit einem pechschwarzen Schatten, doch kann man eine Depression mit einem Schatten vergleichen? Oder ist sie doch ein tiefer Ozean in dem man sinkt und jeder Hilfeschrei vergebens ist? Oder ist sie eine labile Staumauer eines großen Stausees, welche immer wieder bricht? Irgendwie kann nichts eine Depression beschreiben. Man merkt nur, dass einem auf einmal das Leben keinen Spaß mehr macht. Die Welt verblasst und irgend etwas nimmt ihr die Farben. Es ist alles schwarz-weiß. Alles duster, es ist deprimierend. Man fängt an sichbselbst aufzugeben, auf einmal hat man keinen Lebensmut mehr. Man ist nur noch traurig, findet keine Motivation mehr. Alles wirkt kalt und verlassen. Und diese Kälte nimmt dir dein Herz.
Plötzlich werden Lina's Gedankengänge von Jo unterbrochen. "Warum bist du wach?", fragte er. "Ich kann nicht mehr einschlafen", antwortete sie daraufhin. "Dir geht es nicht gut, hab ich recht?", lenkte Jo ab. "Es ist nicht wichtig, ich bin nur ziemlich müde", erwiderte Lina. Lina war ganz blass im Gesicht, sie wirkte wie eine Wachsfigur. "Weißt du, es ist so schwer positiv zu denken, wenn nicht einmal schlafen mehr dagegen hilft..", unterbrach Lina die Stille. "Man fühlt sich immer unausgeschlafen, als hätte man minatelang nicht geschlafen. Es geht am Morgen genau so weiter, wie es am Abend aufgehört hat", fuhr sie weiter fort. Jo fielen keine Worte ein, die sie aufmuntern könnten. Er stand einfach auf und küsste sie, einfach so, ohne Anzeichen. Doch Lina's Zustand veränderte sich kein bisschen. Er kam sich so hilflos vor, doch er kann nichts machen. Es ist einfach so wie es ist und das zu begreifen, fiel ihm schwer.

Wenn eine Sucht zur Sucht wirdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt