Kapitel 9

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Warum wollte ich noch gleich zurück zum Strand?
Achja, ich dachte dort würde es besser sein. Aber es war auf dieser Insel überall gleich schlimm. Außerdem wusste ich, dass mich niemand mehr retten würde.
Ich saß hier für alle Zeiten fest.
Vielleicht sogar mein ganzes Leben.
Willst du überhaupt dein restliches Leben hier alleine verschimmeln?
Ich hatte keinerlei menschliche Ansprache und kämpfte jede Minute ums Überleben. Warum sollte ich mich überhaupt noch anstrengen? Was nützte das ganze?
Vielleicht lebte Emily ja doch nicht mehr. Dann könnte ich wenigstens im Himmel mit ihr zusammen sein.

Ich wollte nicht mehr. Seelisch konnte ich nicht mehr. Ich kauerte mich hin, vergrub das Gesicht in meinen staubigen Händen und weinte. Keine Ahnung wie lange ich so verweilte, bis ich überlegte, ob ich mich überhaupt weiter an den Abstieg von dem Berg machen sollte. Aber diese Frage stellte sich eigentlich gar nicht. Mein Körper hatte selbst den Drang am leben zu bleiben. Vermutlich war das der natürlichen Überlebensinstinkt.
Also stand ich wieder auf und lief weiter abwärts. Meine Kehle war staubig und ständig rutschte ich auf losen Steinen ab. Der Aufstieg war eindeutig leichter.

Irgendwann umgaben mich wieder die Pflanzen und nach ein paar Umwegen spürte ich Sand zwischen meinen Zehen. Zum Glück konnte ich mir relativ gut die Richtung, indem der Strand lag merken, als ich auf dem Berg war.

Erst einmal blieb ich eine Weile im warmen Sand liegen und entspannte meine Fußsohlen.
Dann lief ich am Sandstrand entlang und ließ das Salzwasser über meine Füße schwappen. Es dauerte nicht lange, da war ich wieder bei den Klippen angekommen. Mit einem Finger fuhr ich die Linie nach, die ich vor Tagen dort hinein geritzt hatte.
Dann suchte ich mir einen spitzen Stein und ritzte noch ein paar mehr Rillen in den Fels. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Tage bereits vergangen waren, aber ich würde schätzen, dass ich schon ein Monat hier war. Aber mein Gefühl konnte mich auch täuschen.

Emilys Sicht

"Und...? Und!? Haben sie etwas gefunden? " fragte ich mit verweinter Stimme. Ich war kurz davor den Mann vor mir durchzuschütteln. Er sollte endlich mit der Sprache raus rücken! Egal ob es gute oder schlechte Nachrichten über Dave gab, ICH MUSSTE ES ENDLICH WISSEN!!!
"Haben sie ihn gefunden? " drängte ich weiter.
Als er seinen Kopf schüttelte brach erneut eine Welt für mich zusammen.
"Es gibt nichts neues. Er ist spurlos verschwunden. Es gibt nur wenig Hoffnung...eigentlich gar keine mehr...."
Panisch riss ich meine Augen auf. "Heißt. ..heißt das..." Ich räusperte meine brüchige Stimme. "Sie suchen nicht mehr weiter nach ihm...?"
Ich hatte Angst vor der Antwort, obwohl ich sie eigentlich schon wusste, so mitleidig wie der Mann vor mir mich ansah.
"Es tut mir leid. Der Pazifik ist riesig und kein Mensch würde nach so langer Zeit auf dem Meer noch leben. Wir können nichts mehr tun..."
Ich nickte nur schwach und ließ die Tränen aus mir heraus strömen.
Sie suchten nicht mehr nach Dave. Sie gingen davon aus das er tot sei....

*

Zwei Tage später flog ich nach Hause. Hier hielt mich nichts mehr. Dave würde nicht zurück kommen.
Am Flughafen in San Francisco angekommen erwarteten mich schon meine Eltern. Wie so oft in den letzten Tagen brach ich in Tränen aus und umarmte sie fest. Sie versuchten mich zu trösten, aber es gelang ihnen nicht.
Sie fuhren mich bis zu Dave's und meiner Wohnung. Auf der Fahrt dorthin schwieg ich und auf die Frage, ob meine Mum noch mit rein kommen sollte, schüttelte ich den Kopf. Wie betäubt stieg ich aus und schloss die Tür auf. Wie würde es ohne Dave dort drinnen sein?
Ich schluckte, holte tief Luft und ging rein.
Alles sah aus wie davor.
Niemand schien die Wohnung in der Zwischenzeit betreten zu haben. Auf dem Tisch und auf den Schränken sammelte sich schon der Staub. Wie betäubt lief ich durch die Küche und hielt dann abrupt inne. Im Wohnzimmer in einer Ecke auf dem Sofa lag noch eins von Dave's T-shirts und auf dem Glastisch stapelten sich noch Bücher über sein Medizin Studium. Mein Körper bebte, meine Hände fingen an zu zittern und dann ließ ich mich auf das Sofs sinken und brach erneut in Tränen aus. Tiefe Schluchzer schüttelten mich und ich krümmte mich vor innerem Schmerz zusammen.
Ich vermisste ihn so unglaublich.

Dave's Sicht

Was würde eigentlich mit der Stimme passieren, wenn man sie so lange nicht benutzte?
Würde ich irgendwann, nach Jahren auf dieser beschissenen Insel nicht mehr sprechen können, es einfach verlernen? Aber vermutlich würde man etwas, was man Jahre lang getan hat, nie verlernen.

In letzter Zeit schossen mir öfters solche verrückten Gedanken durch den Kopf.
Vorgestern hatte ich verzweifelt versucht auf eine Palme hoch zu klettern, da das noch ziemlich nützlich sein konnte. Heute hatte ich es endlich gelernt, kam an ein ein paar Kokosnüsse und schlug sie so auf, dass mir der Kokusssaft in den Mund floss.

Am Abend wollte ich mir ein Feuer machen, aber es klappte einfach nicht so, wie es immer in Filmen dargestellt wurde.
Ich hatte trockene Pflanzen als Zündmaterial gesucht und einen dünnen Ast, den ich zwischen meinen Händen hin und her rieb, aber nichts passierte. In der Schule sollte unbedingt echt mal endlich etwas beigebracht werden, dass nützlich ist.
Nach einer Stunde herum probieren gab ich es auf. Eine Weile ließ ich die Sonne auf mich herab scheinen und drehte gedankenverloren das Armband an meinem Handgelenk. Hätte ich es nicht, hätte ich bestimmt schon längst mich selbst aufgegeben.
Aber ich musste Emily stolz machen. Manchmal bildete ich mir sogar schon ein, dass sie neben mir im Sand saß und zusah, wo ich auf die Palme kletterte. Ich halluzinierte schon. Ein deutliches Anzeichen, dass ich verrückt wurde....
Das schlimmste war aber, dass ihr Gesicht in meinen Gedanken immer mehr verblasste. Ich hatte sie schon so lange nicht mehr gesehen, dass meine Gedanken sie zu einem anderen, verschwommenen Bild verzerrten. Aber ich durfte nicht vergessen, wie sie wirklich war, ansonsten hätte ich sie ganz verloren.

Ich schnappte mir meinen angespitzten Stock und watete in das seichte Meerwasser. Als Medizinstudent war mir klar, dass ich es mir auf keinen Fall noch einmal leisten konnte in irgendetwas giftiges hinein zu treten. Letztens hatte ich einfach nur Glück, dass der Seeigel nicht giftig war.
Also passte ich diesmal besser auf und bewegte mich nur ganz langsam durch das Wasser. Es reichte mir bis zur Hüfte, aber es war so klar dass ich auf den Grund sehen konnten.
Ich hielt meinen gespitzt Stock bereit und wartete. Was ich auf dieser Insel bis jetzt am meisten gelernt hatte war auf der Hut zu sein und Geduld zu haben. Also wartete ich und wartete und hielt so still, dass ich die Fische nicht verschreckte.

Ich stand eine gefühlte Ewigkeit im Wasser und hielt mich bereit bis in meiner Reichweite ein größerer Fisch schwamm, ich zielte und die Spitze in seinen Körper bohrte.
Ich stieß einen Jubelschrei aus und begutachtete meinen Fang.
Das erste Essen wieder nach Tagen.

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