Kapitel 58 ~ Von Misstrauen und bereuenden Taten

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DIRAN
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Eine wohltuende Meeresbrise brach mit einer salzigen Note über die Molen und Stege der Hafengegend herein. Kleine und größere Fischerboote ruderten hinaus in die See und versenkten ihre Netze im sanften Wellengang. Von hier und da drangen geschäftige Stimmen zu mir herüber und so mancher Ladekarren rumpelte über die verwitterten Holzbalken.

Es versetzte mir einen tiefen Stich ins Herz, als ich all die Gerüche von Gewürzen, die Dunstwolken von Straßenküchen und die beruhigende Wirkung des Tabakrauches einatmete. Viel zu lange schon war ich von hier fort gewesen. Viel zu weit war ich entfernt gewesen, von dem Ort, welchen ich Heimat nannte. Das prächtige Arleen, die turbulente und gleichzeitig besinnliche Hauptstadt von Thule.

Tagelang war ich umher geirrt, nicht in der Lage gewesen einen klaren Gedanken zu fassen. Zweifel hatten mich geplagt, ob ich in meiner Berufung als Wächter der Nacht versagt hatte. Doch letztendlich entschied ich mich dafür, die schwarzen Tage in meinem Dienst der Bruderschaft zu vertreiben. Dies war meine Pflicht als letzter Wächter im Königreich.

Ich war vor einem verlassenen Gebäude stehen geblieben. In verblichenen Lettern konnte ich auf einem vom Wetter gezeichneten Aushängeschild die Anschrift "Zum Tölpel eines Narren" lesen.

Erinnerungen wurden wach bei der leerstehenden Taverne, welche einst dem lebensfrohen Filou gehörte. Hach, wie es mir doch fehlte dort drinnen bei einem guten Humpen meinen Sorgen Luft zu lassen.
Selbst nach vielen Jahren danach besann ich mich noch der Verbrüderung mit dem Wirten. Wie gern würde ich jetzt die Zeit ein einziges Mal zu dem Moment zurückdrehen, als das Leben noch Hoffnung und Freude in mir versprühte.

Immer wieder blieb ich mitten auf der sich langsam von Handwerkern, Händlern und Freudenmädchen füllenden Straße stehen und schöpfte Kraft für meine Audienz mit dem mächtigsten Mann im Land.

Auf einer Hügelkuppe, welche mehr einer Klippe glich, reckte sich der prunkvolle Bau des königliches Palastes in den Himmel empor. Hohe, schmale Fenster reihten sich dicht an dicht um die Mauer der Kuppel. Dutzende Erker und kleine Türme zierten - neben einer ganz nach südländisch anmutenden Baukunst der Fassade - das Gebäude.
Ein Tor, so hoch dass der Spitzbogen beinahe ans Dach langte bot den Eingang in die große Halle. Davor zeichnete sich ein zentraler Platz ab, von welchem gepflasterte Wege in die symmetrisch angelegten Parkanlagen und Rosengärten führten, an deren Enden sich allerlei Wirtschaftsgebäude sammelten.

Soldaten in der hellblauen Uniform der Palastwachen patrouillierten vor dem Tor der Steinmauer. Bei meinem näherkommen kam mir einer entgegen.

"Haltet ein! Was ist Euer Begehr?", fragte mich der Mann mit schroffer Stimme.

"Möge dein Auge stets wachsam sein, Yadis. Ich bin Diran von der Bruderschaft der Wächter der Nacht. Es gibt eine dringende Botschaft für König Eloas."

Misstrauisch schielte mich der Uniformierte an.

"Ein Wächter sagtet Ihr...", murmelte er.
"Gedhran, schick nach dem Kommandanten. Und gib Bescheid, dass es Eile hat! Wir haben hier einen vermeintlichen Wächter am Tor!", rief dieser einem Waffenbruder zu, welcher sogleich salutierte und sich mit schnellen Schritten in Bewegung setzte.

Verwirrt hielt ich Inne. Warum erkannte mich der Hauptmann nicht mehr?
"Was hat das zu bedeuten? Seit wann kennt die Palastwache Mitglieder der Bruderschaft nicht mehr?".

Nervös zuckten die Fingern des Bewaffneten um den Griff seines Schwertes und zwei weitere Soldaten gesellten sich zu ihm.
"Könnt ihr ein Siegel vorweisen, welches Euch als Mitglied der Bruderschaft ausgibt?"

Wächter der Nacht - Die GabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt