Kapitel 27

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POV Lukas
Berlin, jetzt
Die paar Tage, die ich mit Tim verbrachte, waren wunderschön gewesen. Ich war so verliebt – wie am ersten Tag – und er hatte mich täglich verwöhnt: in jeder Art und Weise. Als er dann wieder in sein graues Bielefeld musste, überkam mich eine fast kindliche Traurigkeit und Sehnsucht. Und dann würden wir uns wieder wochenlang nicht sehen? Was soll ich denn dann machen, außer arbeiten? Ich hatte Termine, er hatte Termine: und das in verschiedenen Städten. Es war echt nicht auszuhalten. Als ich ihn zum Bahnhof fuhr, waren wir beide wieder still, die ganze Fahrt lang. Uns war klar, dass wir uns wieder längere Zeit nicht sehen würden und wenn wir jetzt ein großes Gespräch anfangen würden, würde das alles noch viel schlimmer machen. Deshalb waren wir auch gerade rechtzeitig am Bahnhof angekommen: damit wir nicht allzu lange nebeneinander am Bahnsteig stehen und uns anschweigen müssten. Oder wasauchimmer wir machen würden.

„Da ist mein Zug", meinte Timi nur. Ich starrte traurig auf den ICE, der gerade einfuhr und drehte mich dann zu meinem Freund, dessen Hand ich fest in meiner hielt.
„Musst du wirklich weg?"
„Ach, Luki, wir hatten das doch schon so oft." Gekränkt ließ ich den Kopf hängen, als sich Tim hinter mich stellte und seine Arme um meinen Bauch schlang. Ich konnte seinen Atem an meinem Ohr spüren und begann ihn jetzt schon zu vermissen. Alles an ihm, seinen Geruch, seine Berührungen, seine Stimme, seinen...
„Ich werde immer an dich denken", flüsterte er mir ins Ohr und ich fing an zu lächeln.
„Auch beim Wichsen."
„Tim!" Ich stieß ihn von mir und versuchte empört zu schauen, was mir jedoch nicht gelang. Und Tim bekam einen Lachanfall, der die Blicke mehrerer Leute auf uns zog.
„War doch nur Spaß. Oder eigentlich nicht." Als er sich wieder eingekriegt hatte, nahm er mich in seine Arme und drückte mir einen Kuss auf den Mund. Er sah kurz auf die Uhr und seufzte dann.
„Ich muss jetzt los, Süßer." Ich schluckte die bevorstehenden Tränen runter und umarmte meinen Freund lange, ehe er mir einen weiteren Kuss auf die Lippen drückte, meine Wange streichelte, seine Tasche packte und dann in seinen Zug einstieg.

POV Tim
Ich hasste diese verfickten Abschiede. Ich wurde dann immer nachdenklich und deprimiert und dachte an meine Vergangenheit. Natürlich hatte ich nicht gerade die schlimmste Kindheit gehabt – ich kannte sogar Leute, die weitaus schlimmere Zeiten erlebt hatte – jedoch war sie auch nicht gerade die beste gewesen. Als ich mich auf meinen Platz setzte und der Zug sich in Bewegung setzte, suchte ich nach Lukas am Bahnsteig. Als ich ihn fand, sah ich, dass er sich mittlerweile umgedreht hatte und schnellen Schrittes davonging. Ich konnte trotzdem sehen, wie er sich über die Augen wischte, und das tat mir unendlich weh.

Bielefeld, Februar 2000
Seit meine Eltern sich getrennt haben, litt ich an Depressionen. Mit fünfzehn wurden diese Depressionen stärker, gepaart mit Aggressionen. Die Wut, die durch das erhöhte Testosteron verstärkt wird, machte alles noch schlimmer. Und mein Stiefvater war der Auslöser für die meisten Wutanfälle meinerseits. Er mochte mich einfach nicht – von Anfang an nicht. Vielleicht lag es daran, dass ich ein bisschen anders war als seine Söhne, dass ich schon von klein auf ein Problemkind war, meiner Mutter ständig Sorgen bereitete und mit dreizehn anfing zu kiffen, was ihm überhaupt nicht passte. Je älter ich wurde, desto weniger Zeit verbrachte ich zuhause. Und mein Stiefvater wurde immer unausstehlicher. Eines Tages kam ich relativ spät nachhause – und ja, ich hatte getrunken und gekifft, das konnte man definitiv riechen (und sicherlich auch an meinen roten Augen sehen) – jedoch hätte ich nie gedacht, dass er so ausflippen würde. Er hatte jedoch auch getrunken – und nicht zu wenig – und so schrien wir uns gegenseitig in der Küche an, während meine Mutter versuchte, unauffällig Abendessen zu machen und den Zoff zu ignorieren.

„Da bist du ja endlich. Hast du wieder rumgetrieben, oder was? Jeden Tag der gleiche Scheiss mit dir Tim! Wann lernst du endlich, erwachsen zu werden, hä? Du bist doch schon wieder völlig drauf. Ich frag mich echt, was bei dir falsch gelaufen bist, dass du dich überhaupt traust, in dem Zustand hier aufzutauchen." Ich schluckte und sah meine Mutter an, die seelenruhig am Gemüse weiterschnitt. Augenrollend wendete ich mich wieder an meinen Stiefvater und meinte mit todernster Stimme:
„Ich war lernen."
„Das glaubst du doch selber nicht!" Nee, aber ich will einfach nur, dass du mich in Ruhe lässt. Ich zuckte die Schultern, was er mir nachmachte und dann auf mich zuging.
„Warst du bei einem Jungen? Hä? Hast du dir dein Arschloch von so einem dahergelaufenen Typ mal so richtig durchficken lassen, oder was?" Meine Mutter schlug sich die Hände vor den Mund und ich ging einen Schritt zurück. Wieso war er so ein Wichser? Und wieso musste er immer meine Sexualität miteinbringen? Dafür konnte ich doch nichts. Ich wurde immer wütender und konnte sehen, wie röter er wurde, also setzte ich noch einen drauf, woraufhin er vollkommen ausflippen würde.

„Ja hab' ich. Solltest du mal ausprobieren, Herbert, ich bin mir sicher, dass dir das guttun würde."
„Jetzt reicht's!" Ich wusste, dass ich zu weit gegangen war, also drehte ich mich um und wollte gerade die Küche verlassen, als mich etwas hartes, Schweres am Kopf traf und mein ganzer Körper mit einem Ruck nach vorne gerissen wurde.
„Au! Fuck!" Ich sah auf den Boden und konnte meinen Augen nicht trauen, als ich auf den Boden sah und das Abendessen – oder was davon übriggeblieben war – starrte: der Arsch hatte mir tatsächlich das ungekochte Hähnchen an den Kopf geworfen. Und es hatte verdammt wehgetan.
„Sag mal, spinnst du?", kreischte meine Mutter, während mein Stiefvater in Schock ein paar Schritte zurückgegangen war. Jetzt bereute er es sicherlich.
„Das...das wollte ich nicht. Tim, das...tut mir echt leid." Ich starrte ihn sprachlos an, während ich mir den Kopf rieb, der nun richtig anfing zu schmerzen. Meine Mutter kam auf mich zu und wollte meine Wunde inspizieren, ob ich überhaupt eine hatte, doch ich wich ein paar Schritte weg von ihr.
„Fass mich nicht an!"
„Tim, ich will doch nur sehen, dass alles ok, dass wir dich nicht ins Krankenhaus bringen müssen."
„Wäre er nicht so ein Arschloch, dann müsstest du dir auch weniger Sorgen machen. Dann wärst du wahrscheinlich glücklicher." Daraufhin drehte ich mich um und packte ein paar Sachen, um bei meiner besten Freundin Nele unterzukommen. Deren Eltern würde das sicherlich nichts ausmachen.

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