Kapitel 75

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POV Tim
Bielefeld, eine Woche später
War jetzt wirklich alles wieder in Ordnung zwischen Lukas und mir? Oder würden da noch mehr negative Dinge passieren? Mussten wir uns jetzt eigentlich als Paar nochmal richtig aussprechen? Das waren alles Fragen, die ich mir täglich stellte, bis zu dem Moment hin, als ich in den Zug nach Berlin einstieg. Die letzten Tage hatte ich mir ständig Gedanken darüber gemacht, was denn jetzt mit Lukas und mir passieren würde. Ob wir denn eben einfach wieder von Anfang an diese Beziehung beginnen würden, oder ob wir einfach mittendrin weitermachen würden. Seufzend setzte ich mich auf meinen Sitzplatz im Zug, warf meine Jacke neben mich und starrte erstmal aus dem Fenster. Wie wird Lukas reagieren, wenn wir uns das erste Mal seit dem ganzen Stress sehen? Wird er mich kühl begrüßen? Neu verliebt? Glücklich? Unglücklich? Wütend? Traurig? Wird er mich vielleicht gar nicht vom Bahnhof abholen? Traurig, als ich an die mir bevorstehende Szene dachte, in welcher ich alleine und verlassen auf dem Berliner Bahnhof umrundet von Menschenmassen stand, öffnete ich mein erstes Bier und seufzte wieder. Was ist nur aus dir geworden, Tim? Ein mickriger, schwuler Rapper, der seine eigene Beziehung nicht auf die Reihe bekommt, obwohl er den besten Partner, den man sich vorstellen kann, seinen eigenen nennen kann. Ich runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen. Moment – war Lukas wirklich der beste Partner, den man sich vorstellen kann? Oder kam mir das nur so vor? War ich die letzten Jahre tatsächlich so blind vor Liebe gewesen, dass mir seine ganzen negativen Eigenschaften gar nicht aufgefallen waren?

„Entschuldigung...ist hier noch frei?" Verwirrt sah ich auf in das Gesicht eines schwarzhaarigen, jungen Mannes mit Hipster-Bart und passender Brille. Dass die echt war – also, dass er die wirklich brauchte – bezweifelte ich, und doch stand sie ihm außerordentlich gut.
„Ähh...ja, ja klar. Setz dich."
„Danke." Wir schwiegen einige Minuten lang, in welchen ich aus dem Fenster starrte und der Typ eine Flasche Becks aus seiner Tasche holte und sie mit seinem Feuerzeug öffnete. Raucher und Alkoholiker, also? Dann passen wir ja perfekt zusammen. Ich schüttelte kurz den Kopf, als mir klar wurde, was ich gerade gedacht hatte und drückte mich näher an das Fenster.
„Ent...Entschuldigung, wenn ich dich störe, aber...bist du nicht...gehörst du nicht zu Pimpulsiv?" Dass er Pimpulsiv anstelle von Trailerpark nannte, erstaunte mich schon ziemlich. Deshalb machte es mir auch nichts aus, dass er mich ansprach – vor allem, weil er eben wirklich gut aussah. Und weil ich Lukas eins auswischen wollte.
„Ja, bin ich. Also jetzt bei Trailerpark, aber..."
„Achso, ja, natürlich! Entschuldigung!"
„Gar kein Problem. Ähh...ich bin Tim, aber das weißt du ja schon, oder?"
„Ja, klar", lachte er.
„Ich heiße Nick." Wir lächelten uns an und ich fühlte mich zum ersten Mal seit Langem richtig wohl. Man könnte fast meinen, ich hätte mich verliebt. Doch dem war vermutlich nicht so. Vielleicht war es nur ein kurzzeitiges Schwärmen, was sich da gerade entwickelte, ein Verlangen nach jemand anderen.
„Wohin fährst du? Auch nach Berlin?"
„Ja, zu...zu meinem Freund", antwortete ich.
„Oh. Ok", antwortete Nick etwas betrübt.
„Und...du?", hakte ich nach, um die unangenehme Stille, die sich nun seit einer Minute um uns gelegt hatte, zu brechen.
„Auch nach Berlin. Aber nicht zu meinem Freund." Er lachte wieder, und es war ein schönes Lachen. Generell fand ich ihn sehr attraktiv und sehr schön anzusehen. Lächelnd zog ich mein Handy raus, um meine Nachrichten zu checken. Und sofort verschwand mein Lächeln, da Lukas mir nun schon mehrmals geschrieben hatte.

Lukas, 14:28: Tim, bist du schon im Zug?
Lukas, 14:38: Alles ok? Ich hoffe, dass du deinen Zug nicht verpasst hast.
Lukas, 15:12: Hey, bist du mir noch böse? Weil wir das dann mit unserem Treffen vergessen können. Ich hatte eigentlich gehofft, dass alles wieder gut sei.

Ich stöhnte entnervt auf und Nick warf mir einen verwirrten Blick zu.
„Mein Freund. Er macht sich immer zu schnell Sorgen und schreibt dann immer und immer wieder."
„Aber ist es nicht schön, wenn sich jemand um dich sorgt? Ich meine, ich bin schon seit Jahren Single und irgendwie finde ich es eigentlich total schade, immer alleine zu sein, zu einer leeren Wohnung zu kommen oder eben mit meist fremden Männern zu schlafen."
„Ach, du bist auch...?" Er nickte, ehe ich meine Frage beenden konnte. Na toll, jetzt wird es mir umso schwerer fallen, ihn zu vergessen. Wenn er nur hetero wäre...
„Du auch?"
„Hmm?"
„Stehst du auch auf Männer?"
„Achso, ja. Ich weiß, dass scheint seltsam, weil ich bei Trailerpark bin, aber trotzdem. Ist halt so. Kann man nichts machen."
„Oh, glaub mir, dass man da nichts dran ändern kann, macht mir am wenigsten Sorgen." Nick zwinkerte mir zu und holte dann seinen Laptop raus.
„Ich muss ein bisschen arbeiten – deswegen habe ich auch den Zug genommen, damit ich mal etwas hinkriege – also sorry, wenn ich etwas ungesellig erscheine." Ich winkte ab und sah ihm interessiert zu, wie er ein Tonprogramm öffnete.
„Du hättest mir doch gleich sagen können, dass du Tontechniker bist!" Er sah mich verwirrt an und lachte dann plötzlich auf.
„Achso, ja klar, weil du ja...Ja, macht Sinn, dass dir das gefallen würde."
„Eben! Was machst du denn so?"
„Naja, momentan entwickle ich Musik für ein Handyspiel, welches ein Freund von mir entwickelt hat. Außerdem arbeite ich auch gerade an ein bisschen Musik. Aber nur Privates. Ist auch noch nicht ganz fertig..."
„Zeig's mir doch trotzdem."
„Sicher?"
„Ja, bitte." Er nickte und klickte ein paar Mal auf dem Laptop rum, ehe er die richtige Datei gefunden hatte, sie anklickte und mir ein Paar Kopfhörer hinhielt. Zögernd und doch interessiert nahm ich sie an und setzte sie auf.

POV Lukas
Berlin, jetzt
Die ganze letzte Woche hatte ich ständig daran gedacht, wie es wohl sein würde, wenn Tim vorbeikam, ob wir streiten würden, ob wir uns lieben würden, ob es ganz normal sein würde oder eher unangenehm und seltsam. Tagtäglich dachte ich genau daran: ich dachte an Tim und mich, ich dachte an die guten und die schlechten Zeiten, die wir als Paar miteinander verbracht hatten und ich dachte daran, wie ich ihn betrogen hatte, weil ich so egoistisch war, weil ich ihm eins auswischen wollte oder wasauchimmer ich mir dabei gedacht hatte. Ich fühlte mich immer schlechter, wenn ich daran dachte, was ich ihm angetan hatte, wie ich mich danach benommen hatte, wie sehr ich ihm wehgetan hatte und wie ich ihn einfach so hintergehen konnte.
„Einfach so...naja, so einfach so war es ja dann doch nicht, es hat sich ja aufgebaut, die ganze Scheisse", murmelte ich mir zu als ich mal wieder um vier Uhr in der Früh auf meinem Balkon saß und auf die Straße starrte. Ich konnte die letzten Tage nicht gut schlafen, ich hatte meinen Tagesablauf auf den meines Tourlebens umgestellt, was bedeutete, dass ich spätabends, beziehungsweise in der Früh ins Bett ging und dann erst nachmittags wieder aufstand. Dies hatte natürlich dann den Effekt, dass mein Körper immer schlechter aussah – nicht unbedingt gewichtsmäßig oder was meine kaum vorhandenen Muskeln betraf – sondern eher was meine Gesichts- und Körperfarbe betraf: mein Gesicht war fahl geworden, etwas eingefallen, ganz zu schweigen meines blassen Körpers, der neben den ganzen braungebrannten Leuten fast durchsichtig erschien.

An dem Tag, an dem Tim bei mir vorbeikommen sollte, spürte ich eine mir unbekannte Nervosität, die mich total verwirrte. Ich wurde noch nicht mal auf der Bühne nervös und jetzt plötzlich, nur, weil Tim vorbeikam? Kopfschüttelnd ging ich an den Kühlschrank und stellte stolz fest, dass ich diesen sogar gefüllt hatte, mit allen Leckereien, die Tim mochte. Hoffentlich würde er mich nicht immer noch hassen, hoffentlich würde er froh sein, mich wieder zu sehen. Vielleicht würde es doch nicht so schlimm werden.


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