Kapitel 62

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POV Lukas
Berlin, Februar 2011

Ich, 22:20: Kann ich vorbeikommen?
Julian, 22:21: Klar! Jetzt gleich?
Ich, 22:22: Bin schon auf dem Weg!
Julian, 22:23: Hast du auch nichts vergessen?
Ich, 22:24: Was willst du denn? Komm noch an einem Späti vorbei.
Julian, 22:24: Kippen? Kondome?
Ich, 22:25: Ok. Bis gleich.

Berlin, jetzt (Juni)
Ich, 22:13: Mir ist unheimlich langweilig. Hast du Zeit?
Matthias, 22:14: So spät noch?
Ich, 22:15: Muss nicht sein, wenn du zu viel zu tun hast.

Matthias, 22:16: Nee, ist gar kein Problem. Bin gleich mit der Arbeit fertig. Willst du einfach vorbeikommen? In fünfzehn Minuten?
Ich, 22:16: Gerne. Bin gleich da.

Während ich mich fertig machte, wusste ich, dass das hier nicht richtig war. Dass ich vielleicht mit Tim reden sollte, anstelle mich durch die Gegend zu ficken. Aber irgendwie wusste ich noch nicht mal, wie ich die Unterhaltung anfangen sollte, wie er reagieren würde, vor allem da er ja in seinen vorherigen Beziehungen nicht selten derjenige war, der seinen Partner betrogen hatte. Und jetzt hatte ich ihn betrogen. Wer hätte das gedacht? Ich schüttelte mich innerlich, als ich an den Sex mit Matthias dachte – nicht, weil er mir nicht gefallen hatte, sondern weil es einfach so falsch gewesen war. Und ich konnte definitiv nicht nur ihm die Schuld dafür geben. Ich war weder betrunken noch bekifft gewesen, und ich hatte es auf alle Fälle gewollt. Nein, ich war auch jetzt wieder komplett nüchtern. Ich wollte wieder mit Matthias schlafen. Aber wir würden ja sehen, was passieren würde.

Kurz nachdem ich mit meinen eigenen Gedanken gekämpft hatte, fand ich mich vor Matthias' Café stehen. Ich sah ihn drinnen hin- und her huschen, also entschied ich mich draußen auf einer Bank zu warten. Währenddessen wurde ich nervöser, eben so, als wäre dies ein erstes Date. Irgendwann kam er dann raus, winkte mir kurz bevor er die Tür abschloss und auf mich zulief.
„Hey, na du?"
„Hi. Wie war die Arbeit?"
„Ach, ganz ok. Wir hatten nur einen Tisch, der dann erst gegen acht Uhr dreißig reinkam und die wollten nur Cocktails. Ich glaube, ich habe noch nie so viele Cocktails auf einmal gemacht. Weiber, ey...Und bei dir so?", fragte er und zog sich eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche.
„Ich arbeite gerade an meinem neuen Album. Soll dieses Jahr rauskommen."
„Ah, nicht schlecht!", grinste er mich an, während er sich eine Zigarette ansteckte.

„Ich habe da ein ganz nettes Plätzchen an der Spree gefunden. Sollen wir dahin?"

„Gerne." Wir liefen dann schweigend nebeneinander, während ich immer wieder aus Versehen in ihn reinlief. Eigentlich wollte ich seine Hand nehmen, wieder mit ihm kuscheln, ihn küssen. Aber vielleicht wussten wir beide, dass das letztens das erste und letzte Mal sein sollte, wo wir miteinander schliefen.
„Ähm...ich...habe Tim immer noch nichts gesagt", unterbrach ich die Stille, die zwischen uns herrschte.
„Hmmm. Vielleicht solltest du es ihm sagen."
„Meinst du wirklich?"
„Ja, ich mein, als ich betrogen wurde, war ich am Ende froh, dass er es mir gesagt hatte. Weil...naja, man findet es am Ende doch trotzdem heraus. Und ich glaube, dass es nicht gut wäre, wenn Tim es von jemand anderen herausfinden würde."
„Ja, stimmt...Ich glaube nur, dass...naja, weil er doch eh Angst hatte, dass es mit dir sein würde...vielleicht ist es doch nicht so ideal."
„Er muss halt fragen. Sag ihm, dass du ihn betrogen hast und wenn er wissen will, mit wem, dann sag's ihm. Als das mit Oliver passiert ist...da habe ich ihn so gehasst, weißt du? Als er mich betrogen hatte. Weil...wir waren ja in einer Beziehung und Beziehungen sind ja normalerweise monogam. Aber er wollte halt nicht nur einmal, sondern immer wieder mit anderen Männern schlafen, und tat das dann auch. Naja, irgendwann habe ich mich damit abgefunden, aber die Beziehung ist trotzdem in die Brüche gegangen." Ich sah traurig auf den Boden und schwieg, bis wir uns ans Ufer setzten. Willst du die Beziehung mit Tim erhalten? Oder sollt ihr gleich Schluss machen?
„Was willst du denn?", fragte mich Matthias sanft.
„Ich...ich weiß nicht. Ich habe das...das mit dir sehr genossen und würde...es gerne nochmal machen."
„Aber das ist ja nicht fair Tim gegenüber."
„Nee..."

Wir starrten schweigend auf die Spree, als Matthias mich zu ihm zog, seine Arme um mich schlang und mir wieder den Scheitel küsste. Es tat so gut, in seiner Nähe zu sein, seine Wärme zu spüren, und alle meine Probleme fühlten sich unheimlich weit weg an. Doch ich wusste, dass das hier nicht viel länger anhalten konnte, dass ich entweder das mit ihm beenden oder das mit Tim beenden musste. Und ich wollte weder das Eine noch das Andere. Genau das war ja mein Problem. Matthias drehte meinen Kopf ein wenig zu ihm und küsste mich sanft auf den Mund, vorsichtig und erstaunlich liebevoll. Ich erwiderte den Kuss, schob ihm irgendwann meine Zunge zwischen die Lippen und platzierte meine Hand auf seiner Brust.
„Wie war das nochmal mit der Distanz?", fragte ich, als wir uns lösten.
„Naja, du hast mich ja angeschrieben."
„Das stimmt auch wieder." Ich seufzte laut auf und fuhr mir durch die Haare, bevor ich ihn ansah. Er war wirklich ein attraktiver Mann und ich würde alles geben um wieder und wieder mit ihm zu schlafen.
„Es tut mir leid", meinte er plötzlich.

„Was tut dir leid?"
„Ich hätte dich nicht...ich hätte das nicht tun sollen."
„Naja, aber ich wollte doch. Ich mein, ich bin zu dir gekommen, ich habe dich zurück geküsst, ich habe mit dir geschlafen, ich habe nie Nein gesagt. Da waren wirklich wir beide schuld dran."
„Ja, aber...ich, als...Freund hätte das nicht tun sollen. Das hat Tim nicht verdient." Plötzlich wurde ich total genervt. Tim, Tim, Tim. Matthias redete ständig von Tim und dann küsste er mich, fasste mich an, brachte mich um den Verstand. Das war doch alles verrückt. Wie sollte ich denn da einen klaren Gedanken fassen können? Ich versuchte mich selber zu beruhigen – im Grunde genommen tat es ja gut, mit Matthias über das alles zu reden.
„Ja, aber irgendwie...fühl ich mich nicht ganz so schuldig", meinte ich dann irgendwann.
„Oh?"
„Ja, weil...keine Ahnung. Ach, fuck. Ich bin echt ein Arschloch", meinte ich und vergrub mein Gesicht in den Händen. Ich spürte eine warme Hand auf meinem Rücken, wie sie mich sanft streichelte.
„Nein, bist du nicht, Lukas. Aber du musst es ihm erzählen, egal, ob du dich schuldig fühlst oder nicht. Wie er reagieren wird, ist dann seine Sache."

POV Tim
Bielefeld, jetzt
Ich starrte auf mein Handy, wie schon so oft in letzter Zeit. Schreib mir endlich! Ich wollte einfach nur seine Stimme hören, mit ihm reden, mich bei ihm entschuldigen. Bei meinem Lukas.
„Tim, das bringt doch nichts."
„Vielleicht meldet er sich doch."
„Das wird er sicherlich, aber nicht, wenn du weiterhin so auf dein Handy starrst." Ich sah Marcel mit leerem Blick an. Lukas meldete sich zwar nicht immer regelmäßig, aber das hier, das war sogar für seine Verhältnisse seltsam. War er wirklich so unglücklich in unserer Beziehung, dass er jetzt zu jemand anderen rannte? Oder lief da nichts und ich machte mir nur unnötig Sorgen? Ich hoffte inständig, dass es letzteres war. Lukas war nicht der Typ, der auf Seitensprünge stand. Vielleicht betrog er mich gerade deshalb? Weil er so etwas normalerweise nicht machte, weil er eigentlich ein sehr treuer Mensch war, einer, dem man vertrauen konnte, auf den man zählen konnte. Jedoch hatte ich ihn noch nie in einer extremen Situation gesehen, mit der er nicht umgehen konnte.

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