Kapitel 84

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POV Timi
Bielefeld, Oktober 2014

Ich raffte mich vier Stunden später mühsam vom Bett auf und griff als allererstes nach meinem Handy, auf dem mehrere Anrufe in Abwesenheit waren sowie unzählige Nachrichten, alle von Lukas. Ich wählte die Nummer meines Freundes und wischte mir über das Gesicht, gleichzeitig in der Hoffnung, dass er einerseits abheben würde, und andererseits, dass er mich ignorieren würde. Letzteres wäre natürlich besser, dann würde ich ihn nicht stören, dann müsste er sich nicht schon wieder Sorgen um mich machen, um den Älteren, der sich eigentlich um sich selber kümmern sollte. Andererseits brauchte ich ihn jetzt, nicht später, nicht an einem anderen Tag, nicht an einer anderen Woche. Lukas hob sofort ab und fragte panisch, was los sei, ob ich ok sei, ob er vorbeikommen solle, was denn passiert sei.
„Nichts, sorry, ich...ich habe geschlafen", murmelte ich und stützte meinen Kopf auf meinem rechten Arm ab.
„Timi, du lügst. Ich kann das sogar durchs Telefon hören." Lukas ist der Einzige, der mir in dieser Situation helfen konnte. Er wusste immer, was man sagen musste und er würde für mich da sein – da bin ich mir ganz sicher.
„Ich...ich...mein...Lukas, mein Großvater ist gestern...gestern gestorben." Es herrschte kurz Stille, ein paar Sekunden vielleicht, bevor Lukas wieder etwas sagte.
„Timi, das...das tut mir sehr leid. Du hast ihn sehr geliebt, nicht wahr?" Als Antwort konnte ich nur schluchzen und hasste mich selber. Ich war ein erwachsener Mann, und ich heulte, weil mein Großvater gestorben war? Das war doch nicht mehr normal! Auch, als ich mich etwas gefangen hatte, sagte ich nichts. Was sollte ich denn sagen? Dass ich meinen Freund bei mir wollte und er das gefälligst tun sollte? Als ich endlich etwas entgegnen wollte, kam er mir zuvor.
„Timi, ich komme vorbei."
„Nein, das...das musst du nicht."
„Doch. Ich bin heute Abend bei dir." Seine Stimme klang so, als würde er keine Widerrede dulden.
„Lukas, wirklich. Mir geht's schon wieder besser."
„Das hört sich aber anders an! Ich bin spätestens um 22Uhr bei dir." Dann legte er auf und ich fing wieder an zu heulen – jedoch dieses Mal war meine Heulerei aus Trauer und Freude zugleich – und Dankbarkeit. Ich war dankbar, dass ich so einen tollen Freund hatte, der sich immer um mich kümmerte, egal, was passierte.

Eine halbe Stunde später packte mich leichte Panik: ich wollte nicht, dass Lukas sich die Mühe machte, und die vierhundert Kilometer zu mir fuhr. Und wollte ich auch nicht alleine sein, und Lukas war der Einzige, den ich jetzt bei mir haben wollte. Niemand konnte mich so gut trösten wie er, niemand konnte die richtigen Worte finden, so wie er. Niemand konnte den weichen Kern in mir herausholen, so wie er. Niemand fasste mich so an wie er. Und vor allem küsste mich niemand so wie er es tat. Auch wenn es sich wie unendliche Stunden anfühlte, bis er endlich bei mir ankam, war ich am Ende so froh, dass er bei mir war, dass er mich nicht auslachte, dass er alle wichtigen Dinge, die er eigentlich vorhatte, beiseite räumte, um bei mir zu sein, um sich um mich zu kümmern. Warum musste sich eigentlich immer jeder um mich kümmern? Sollte ich das nicht selber können? Was, wenn das mit Lukas nicht mehr lange anhalten würde? Was, wenn er das Interesse an mir verlieren würde? Wenn er einen anderen finden würde? Wenn ich ihm zu viel Arbeit sein würde? Wenn das mit der Band nicht mehr gut gehen würde? Wenn er nur so tat, als würde er zu mir fahren und ich würde dann stundenlang auf ihm warten, und er würde nie kommen?! Frustriert fuhr ich mir über die nassen Augen und wischte meine Hand anschließend an meinem Laken ab. Hoffentlich würde Lukas bald hier sein – sonst würde ich noch wahnsinnig werden.

POV Lukas
Berlin

Ich packte sofort ein paar Sachen zusammen und stieg in meinen Wagen – für ein Zugticket hatte ich keine Zeit. Ich wollte jetzt bei Tim sein. Er brauchte mich dringender, als irgendein Meeting mit Basti, in welchem dieser mich eh nur mit Geldmacherei zulabern würde. Ich wusste außerdem, wie sehr Timis Großvater ihn beeinflusst hatte, wie sehr er ihn geliebt hatte und dass sein Tod katastrophale Folgen für Timi haben konnte. Wie lange ich bei Tim bleiben würde, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass ich bei ihm sein wollte, dass ich ihm so gut ich konnte helfen wollte. Dass ich sein Freund sein wollte – sein Liebhaber und sein Partner. Ich hatte noch alle meiner Großeltern, bis jetzt war noch keiner meiner Angehörigen gestorben, deshalb wusste ich nicht, wie man sich um jemanden kümmern sollte, der gerade seinen geliebten Großvater verloren hatte. Vor allem, wenn man bedachte, dass meine Familie immer für mich dagewesen war und Tims Eltern nie so richtig für ihn dagewesen waren. Ich wollte nichts Falsches machen und ich wollte Timi in der Art beistehen, wie es für ihn am besten sein würde. Alles, nur damit er sich besser fühlen würde, damit er wusste, dass ich bei ihm sei, dass ich ihm immer beistehen würde, komme was wolle.

Ich stieg immer mehr aufs Gas und fuhr durch die Nacht, ständig in Sorge, dass Tim sich etwas antun könnte. Er war zwar nicht suizidgefährdet, und doch tendierte er dazu, es massiv zu übertreiben, wenn ihm etwas Negatives passierte. Da spielten harte Drogen wie Crystal Meth und sogar Heroin auch mal eine größere Rolle. Ich war mir sicher, dass ich es mal wieder mit meiner mütterlichen Besorgnis übertrieb, und doch wollte ich nicht, dass ich ihn am Ende an einer Überdosis leidend ins Krankenhaus bringen musste und er es vielleicht nicht überleben würde. Je mehr ich an die ganzen Dinge dachte, die Tim sich antun könnte, desto schneller fuhr ich. Ich wurde auf den Straßen angehupt, vermutlich auch angeschrien, doch das war mir egal. Ich wollte einfach nur bei Tim sein. Und nach einer Autofahrt, die mir so vorkam, als würde sie viele Stunden gedauert haben, kam ich endlich bei ihm an. Kaum hatte ich den Schlüssel umgedreht, war ich auch schon aus dem Auto gesprungen und in Tims Haus gerannt, welches wie immer nicht abgeschlossen war.
„Tim? Tim! Wo bist du?", rief ich, während ich durch das Wohnzimmer nach oben lief und ihn schließlich auf dem Bett liegen sah. Ich atmete erst einmal tief ein und wieder aus, als ich im Türrahmen stand und seinen Körper anstarrte. Ich hatte mir schon verschiedene Szenarios ausgedacht, wie ich ihn vorfinden würde, unter welchen ich eine Szene im Kopf hatte, wo Tim tot von der Decke hing und ich ihn nie wieder lachen hören würde. Doch mein Freund lag auf dem Bauch und schien zu schlafen. Zumindest hob und senkte sich sein Rücken; demnach schloss ich, dass er noch ziemlich lebendig war.

Ich war so erleichtert, dass er noch am Leben war, dass mir gar nicht auffiel, dass er sich aufgerichtet hatte und mich mit verheultem Gesicht ansah.
„Lukas. Du bist ja doch gekommen", flüsterte er.
„Ähh...was? Ja, klar bin ich gekommen. Ich wollte bei dir sein, du hast mich gebraucht." Er starrte mich an und fing dann wieder an zu weinen. Schnellen Schrittes ging ich auf ihn zu und nahm ihn wortlos in den Arm. Ich setzte mich neben ihn aufs Bett, ohne ihn loszulassen, und versuchte ihn so gut es ging zu trösten. Mein Freund, der Ältere, der Toughere von uns beiden, heulte einfach immer weiter, machte mein T-Shirt nass, schniefte, und drückte mich so fest an ihn, dass ich glaubte, keine Luft mehr zu bekommen.
„Ich bin ja hier, Timi. Ich bin bei dir. Und ich werde auch nicht mehr weggehen. Egal, was passiert."

Berlin, jetzt
Ich saß mittendrin in meinen ganzen Umzugskisten und wusste nicht mehr weiter. Was sollte ich behalten, was sollte ich wegwerfen, was würde Tim gefallen, was würde er auf keinen Fall in unserer gemeinsamen Wohnung haben wollen? Würde alles einfacher sein, wenn wir zusammenleben? Würden wir uns gegenseitig mehr vertrauen? Würden wir uns besser um einander kümmern können? Würde ich ihm nicht mehr fremdgehen? Gestresst fuhr ich mir durch die Haare und ließ meinen Blick durchs Zimmer schweifen, bis er an einem Foto von Tim und mir hängenblieb. Ein sehr privates Foto. Wir beide in meiner alten Heimat, wie wir nebeneinander im Gras liegen und gerade einen Lachanfall hatten, als Tim das Foto machte. Ich lächelte: das waren wir. Timi und Lukas, das Trailerparkpärchen, Timigatoah, oder wieauchimmer. Und bald würde ich sein schönes Gesicht jeden Morgen beim Aufwachen sehen. Während ich weiterhin das Foto ansah, bekam ich eine Nachricht von Tim. Er hatte mir ein Foto von dem Chaos, welches momentan in seinem Haus herrschte, geschickt: es lagen Dinge überall herum, Umzugskisten, Schnickschnack, Bücher, Klamotten, Heisenberg und Gustavo hatten sich jeweils eine Kiste als neuen Schlafplatz ausgesucht (letzterer hatte die Hälfte der Kiste zerkaut) und Tim selber blickte frustriert mit heruntergezogenen Mundwinkeln und einer Kippe im rechten Mundwinkel in die Kamera.
„Könnte dich jetzt gut gebrauchen", las ich auf der Unterschrift. Natürlich. Ich war der Inbegriff der Ordnung (zumindest im Trailerpark) und ich wusste am besten, wie schwierig Timi es fand, ordentlich und organisiert zu sein. Auch wenn er es immer in seinem Chaos schaffte, das, was er suchte, zu finden.
„Ich kann es kaum erwarten, wieder bei dir zu sein", murmelte ich, schickte ihm ein Herz und legte das Handy auf den Tisch um endlich mal mit dem Packen weiterzukommen.


Es tut mir soooo leid, dass fast einen Monat lang nichts kam! Aber mit dem Umzug und diesen verdammten 12-Stunden Schichten (die zu einer 55-Stunden-Woche werden), habe ich weder die Energie, noch die Motivation gehabt, etwas Gescheites hervorzubringen. Nächste Woche geht's in den Urlaub - vielleicht kommen mir da mehr Ideen, ich habe nämlich nur noch vier Kapitel auf Lager ;-)

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