Kapitel 56

478 33 12
                                    

When I wake up, I'm afraid someone else might take my place.

POV Tim
Bielefeld, jetzt
Ich, 17:20: Lukas, es tut mir so leid, bitte schreib mir zurück!
Ich, 17:45: Ich habe richtig Scheisse gebaut, ich wollte das nicht. Ich liebe dich und ich vermisse dich so sehr!
Ich, Sprachnotiz, 18:09: „Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll. Ich...Lukas, ich liebe dich, nur dich! Und...vielleicht sollte ich wirklich das mit den Drogen herunterschrauben – das wäre ja auch besser für mich. Aber du musst mich zurückrufen, ich weiß doch nicht, wie es dir geht! Ich weiß nicht, was du machst. Seit...seit drei Tagen versuch ich dich anzurufen und es geht immer nur der Anrufbeantworter ran. Lukas, Schatz, ich liebe dich doch so sehr! Ich weiß nicht, weshalb ich so ausgeflippt bin, ich weiß, dass du mich nicht betrügst, ich weiß, dass du so etwas nicht machen würdest."
Ich, Sprachnotiz, 19:14: „Wo bist du, Lukas? Bitte pass auf dich auf. Ich mache mir wirklich Sorgen!"

Jede meiner Nachrichten hatte nur die grauen Häkchen neben sich. Er hatte keine davon gesehen. Er war auch schon seit Stunden nicht mehr online gewesen. Seufzend lehnte ich mich nach vorne, über den Wohnzimmertisch. Ich griff wieder einmal nach einer Flasche Hochprozentigem, die praktischerweise schon auf dem Tisch stand – ich wusste noch nicht mal, was es war – und setzte an, während mir die Tränen unkontrolliert die Wange runterliefen. Will er Schluss machen? Dass das zwischen uns nicht mehr ist? Hasst er mich? Liebt er einen anderen Mann? Was ist eigentlich mit diesem Matthias?
„Du vögelst ihn bestimmt gerade...", murmelte ich und starrte geradeaus auf meinen Teppich, während ich mir meine bestimmt dreißigste Zigarette an dem Tag anzündete.

POV Lukas
Berlin, jetzt
Warum hat er mich nicht geküsst? Weil das falsch gewesen wäre, weil es Tim verletzt hätte. Aber ich wollte es doch so sehr...deshalb haben wir uns auch nicht direkt angesehen, eben, weil wir uns dann vermutlich geküsst hätten.
Es hatte einen, oder zwei Momente gegeben, in denen ich zu Matthias hochgesehen hatte, er mich angelächelt hatte und ich mich dann wieder dem Film widmete. Ich glaube, hätte ich mich nicht von ihm abgewandt, hätte ich ihn geküsst. Höchstwahrscheinlich. Und es brachte mich um. Auch wenn ich anfangs dachte, dass da kein Drang gewesen war, ihn zu küssen, war ich mir sicher, dass das nicht stimmte. Natürlich wollte ich ihn küssen. Aber es ging mir zu schlecht, um es zu tun. Außerdem dachte ich immer noch an Timi. Ich war hin- und hergerissen von den Gedanken: dass ich seine Streicheleinheiten genossen hatte, dass ich aber nichts Falsches tun wollte, dass ich ihn trotzdem küssen wollte, dass ich Tim nicht verletzen wollte.

Irgendwann hatte Matthias gemeint, er müsse gehen. Das hatte er mir ins Ohr geflüstert, als ich geschlafen hatte. Und dass ich nicht aufstehen müsse, dass er den Weg nach draußen finden würde. Er hatte mir noch ein paar Mal über die Wange gestrichen und war dann gegangen. Und ich fühlte mich traurig, alleine und doch noch ein wenig besser vom Kuscheln. Ich konnte nicht aufhören, über das Geschehene nachzudenken. Am nächsten Tag verließ ich dann endlich zum ersten Mal in ein paar Tagen meine Wohnung, weil ich sonst wahnsinnig geworden wäre. Ich wählte irgendetwas Beruhigendes auf meinem Handy aus, doch auch Musik half mir nicht, das Geschehene zu vergessen. Ich versuchte mich immer wieder daran zu erinnern, dass nichts passiert war, dass wir uns nicht geküsst hatten, dass wir uns nur gestreichelt hatten, und das noch nicht mal an Körperstellen, die als „gefährlich" gesehen konnten. Gedanken, die mich gleichzeitig als Opfer und als Täter darstellten, schwirrten mir im Kopf herum, sodass ich nicht merkte, wohin ich lief und mich am Ende in der Nähe des Cafés fand, welches Matthias im letzten Monat eröffnet hatte (dank mir, weil ich ihn dazu gebracht hatte, sein eigenes Ding durchzuziehen, weil ich mich mal wieder in alles einmischen wollte, weil ich erfolgsgeil bin). Ich wollte gerade wieder kehrtmachen, als er direkt vor mir stand, attraktiv wie eh und je, und mir die Röte ins Gesicht trieb.


„Hey, na?"
„Oh. Hi. Wie...wie geht's?", versuchte ich so locker wie möglich zu fragen, doch vergeblich. Es war total offensichtlich, dass mir das hier unangenehm war. Vor allem nach den letzten Geschehnissen.
„Ganz gut. Wie war dein Tag?"
„Gut, gut..." Ich sah abwechselnd zu ihm und auf den Boden.
„Hast du noch viel für heute geplant?" Er sah so freundlich aus, so, als wäre nichts zwischen uns passiert, war vollkommen neutral.
„Nee...ich...wollte noch essen gehen und..."
„Komm doch bei mir vorbei!"
„Bei dir im Café?"
„Ja, wo denn sonst?", lachte er. Und ich fühlte mich unwohl. Ich verspürte nun doch den Drang ihn zu küssen, wollte ihn umarmen, ihn anfassen, ihn riechen, ihn spüren. Außerdem dachte ich ständig an das, was zwischen uns im Bett passiert war, auch wenn es nicht so schlimm war, oder doch. Ich wusste es nicht. Meine Hände wurden sofort schwitzig und ich starrte auf den Boden.
„Ähm...nee, danke. Ein anderes Mal. Tschüss!" Und so flüchtete ich, wie in einer Mädchenkomödie, in das nächste Fast-Food-Restaurant, direkt auf die Toilette, wo ich mich mit rasendem Herzen an die Wand lehnte und am liebsten sterben würde. Beziehungsweise: ich wollte wieder in seinen Armen liegen, die Augen schließen, spüren, wie er mir durch die Haare strich. Macht Tim das nicht auch? Ja, aber es fühlt sich anders an. Nicht genauso schön? Doch, schon, aber anders.

„Ähm...musst du noch, oder...?", wurden meine Gedanken von einer männlichen Stimme unterbrochen. Ich sah auf und in das Gesicht eines zirka fünfzehnjährigen Jungen, der nervös an seinem T-Shirt zupfte und es nicht wagte, mir in die Augen zu sehen.
„Nee...ich...ähhh...nee." Hoffentlich kennt der mich nicht. Ich wusch mir schnell provisorisch die Hände und verschwand so schnell ich konnte, natürlich nicht ohne durch die Schar von Teenagern zu stolpern, von welchen die eine Hälfte mich ignorierte und die andere ihre Handys zückte und tuschelte. Ich hasse euch alle. Kann man nicht einmal alleine frustriert sein? Vermutlich nicht in einer Großstadt wie in Berlin. Manchmal wäre ich gerne wieder zuhause.


Drei Tage später
„Hey, ähh...wie...wie geht's dir?", fragte ich in den Hörer, während ich mir nervös meine Hände an meiner Hose abwischte.
„Gut, ganz gut. Und dir? Du bist letztens weggerannt...alles ok bei dir?", lachte er.
„Ja, ich...ich wollte nur fragen, ob...hast du...hättest du Lust, etwas trinken zu gehen?"
„Ja gerne! Wann denn?"
„Hmmm...heute nach der Arbeit? Wann bist du denn fertig?"
„So gegen acht Uhr abends. Soll ich dich abholen?"
„Nee, musst du nicht. Lass uns im Schmutzigen Hobby treffen."
„Ok, klingt gut. Dann bis um halb neun oder so."
„Ja. Ich...ich freu mich." Ich legte dann auf und wurde total nervös. Ich würde ihn wiedersehen. Endlich. Aber diesmal würde ich ihn aufklären müssen. Ich musste ihm sagen, was ich fühlte. Weil es mich krank machte, weil es mich verwirrte, weil ich nicht wusste, was ich machen sollte. Wir müssen uns distanzieren.

Gib mir die HandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt