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Ich wollte noch nie von hier weg. Gloucester erschien mir schon immer als die schönste Stadt auf Gottes guter Welt. Seit Urzeiten lebte meine Familie, die Cassidys, nun schon hier, angeblich waren meine Vorfahren sogar gute Freunde des Grafen von Gloucestershire gewesen. Jetzt arbeitete mein Vater als Sekretär des Bürgermeisters, meine Mutter war eine ordentliche Hausfrau.

Und nichts anderes wünschte ich mir auch für meine Zukunft: langweilige, sichere Ruhe, genauso wie mein Leben bisher auch schon verlaufen war. Ich hatte eine behütete Kindheit gehabt. Abgesehen von aufgeschlagenen Knien oder blauen Flecken, lebte ich unbeschadet und ohne erwähnenswerte Vorfälle, bis in mein 19. Lebensjahr hinein. Denn 18 war ich, als mein erster Tag auf der Uni vor der Tür stand und natürlich besuchte ich, wie alle anderen es aus meiner Familie auch getan hatten, die University of Gloucestershire.
Die Secondaryschool und die Sixth Form hatte ich in einem altehrwürdigen, katholischen Mädcheninternat verbracht und freute mich deshalb umso mehr darauf, die Uni von Zuhause aus besuchen zu können.

Der Stolz stand meiner Mutter förmlich ins Gesicht geschrieben, als ich am Morgen meines ersten Tages die Treppe nach unten geschritten kam. Meine kastanienbraunen Haare fielen seidig glänzend auf meinen marineblauen Kuschelpullover, der meine ebenfalls blauen Augen aus meinem sommersprossigen Gesicht hervor stechen ließ. Unter dem Pulli trug ich eine weiße Bluse, dazu einen grauen Faltenrock, weiße Overkneestrümpfe und später würden braune Stiefeletten das Outfit perfektionieren. Seit meiner Aufnahmebestätigung plante ich diesen besonderen Tag und meine Kleidung war nur eins der vielen Dinge, auf die ich mich für heute vorbereitet hatte. Es würde alles perfekt werden. Der perfekte Anfang meines neuen perfekten Lebens als erwachsene junge Lady. Haha.

"Sky", schluchzte meine Mutter, während sie verzweifelt versuchte die Tränen zurück zu halten. Sie war sehr nahe am Wasser gebaut. "Du siehst so wunderhübsch aus!"
Mein Vater kam in die Diele geschlendert, legte einen Arm um die Schultern meiner Mum und betrachtete mich ebenfalls mit unverhohlenem Stolz in den Augen. "Da hast du allerdings Recht, Pam."
Ich wurde augenblicklich rot und begann verlegen an meinem Rock herum zu nesteln.
"Die Zeit ist so schnell vergangenen", schluchzte meine Mutter und vergrub ihren blonden Kopf für einen kurzen Moment an der kräftigen Brust meines Vaters. "Jetzt ist sie schon so erwachsen und geht aufs College, dabei war sie doch gerade eben noch in der Vorschule. Ich kann es gar nicht glauben."
"Kriegt euch wieder ein", rief da mein kleiner Bruder Jackson, der gerade hinter mir die Treppe nach unten gepoltert kam und mir frech in die Haare griff. "Die dumme Karotte sieht genauso aus wie immer." Damit schob er sich an mir vorbei und lief weiter ins Wohnzimmer.

"Wie kannst du so etwas nur zu deiner Schwester sagen?", empörte sich meine Mutter und folgte Jackson. Damit war der Augenblick der peinlichen Musterung Gott-sei-Dank vorüber und auch mein Vater und ich nahmen an dem gedeckten Frühstückstisch Platz, wobei ich erst einmal Jacksons Beine von meinem Stuhl schieben musste.

"Wenn du dich wenigstens ein bisschen schminken würdest!", schlug Jackson mit vollem Mund vor und ein kleines Rinnsal Milch lief über seine Unterlippe. Ich warf ihm einen angewiderten Blick zu. Jungs im Alter von 14 waren ja so was von anstrengend, obwohl, waren Jungs das nicht immer, egal in welchem Alter?
"Was verstehst du schon davon?", fuhr ich ihn giftig an und schnappte mir eine noch warme Waffel von einem Teller in der Mitte des Tisches.
"Mehr als du offensichtlich", spottete Jackson, als meine Mutter mit drei Tassen Kaffe in den Händen aus der Küche kam. "Halt den Mund, Jack!", ging sie dazwischen und reichte ihm seinen Becher. "Sky muss sich nicht schminken, um umwerfend auszusehen. Erst wenn sie jemanden wirklich beeindrucken will, sollte eine Frau Make-up benutzen, damit es etwas besonderes bleibt."
"Warum malst du dir dann jeden Tag das Gesicht an?" Schalk blitze fröhlich in Jacksons Augen auf, als er einen Schluck aus seiner Tasse nahm. Ich war die einzige aus meiner Familie, die nicht so abhängig von dem braunen, bitteren Gesöff war. Stattdessen trank ich lieber eine heiße Schokolade mit aufgeschäumter Milch oder einen würzigen Chai. Heute hatte ich mich jedoch für einen süßen Granatapfeltee entschieden.
"Weil ich euren Vater jeden Tag beeindrucken will." Meine Mutter warf meinem Dad einen kurzen, liebevollen Blick zu, den er mit einem Zwinkern erwiderte.
"Dazu musst du dich aber genauso wenig schminken wie Sky", säuselte er, doch meine Mum reagierte nur mit einer wegwerfenden Handbewegung. "Du Schleimer! Ich bin doch schon alt und runzelig."
"Mir fällt das gar nicht auf", behauptete mein Vater so trotzig wie ein kleines Kind.
"Ja, wegen dem Make-up", scherzte Jackson, woraufhin mein Vater wieder hinter seiner Zeitung in Deckung ging.
"Sei nicht so frech!", wies meine Mutter ihren Sohn zurecht, doch ihre blauen Augen glitzerten wie immer so freundlich und warmherzig, dass Jackson sie unmöglich ernst nehmen konnte. "Und zieh dir bitte etwas anderes an! Du kannst doch nicht mit einer Jogginghose in die Schule gehen. Und was sind das für widerliche Flecken auf deinem T-Shirt?" Sie zog die Nase kraus und ich grinste, als ich sah wie Jackson sein schwarzes Shirt beäugte. "Tja Jack, Essen will gelernt sein, was?"
"Das ist nur Milch", versuchte Jackson sich zu verteidigen. "Das kann ich gleich mit Wasser und ein bisschen Seife auswaschen."
"Du ziehst dich um!", befahl meine Mutter streng, "und zwar auf der Stelle!"
Mein Lachen verfolgte Jackson wohl noch bis hinauf in sein Zimmer.

The Story of Ocean and SkyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt