Draußen angekommen, lehnte ich den Kopf an die kühle Wand und schloss für einen Moment die Augen. Ich zitterte am ganzen Körper, Schweißperlen standen mir auf der Oberlippe, meine Wangen glühten heiß und Tränen brannten in meinen Augen. Ich versuchte sie eilig weg zu blinzeln. Irgendwie musste ich mir das letzte bisschen Würde bewahren. Nach dieser Blamage würde ich im Boden versinken, wenn mich auch noch jemand beim Heulen auf dem Gang erwischen würde. Also atmete ich ein paar Mal tief durch und kramte meinen Stundenplan aus meiner Tasche. Es war ganz klar, dort stand Raum 221 nicht 122, in dem ich fälschlicherweise gelandet war. Wie hatte mir so etwas nur passieren können, obwohl ich mich seit Wochen auf diesen Tag vorbereitet hatte? Und was sollte ich jetzt machen? Noch bei meinem Erdkundekurs vorbeischauen? Aber dann würde ich wieder Aufmerksamkeit auf mich ziehen und noch mehr Blicke und lautes Lachen, brauchte ich wirklich nicht. Außerdem wollte ich nicht gleich zu Anfang einen schlechten Eindruck bei meinen Lehrern erwecken, indem ich zu spät kam. Entweder ganz, oder gar nicht.
Also, was konnte ich sonst tun? Den Campus erkunden? Die ersten Kapitel des Erdkundebuchs auf eigene Faust durcharbeiten? Oder auf's Klo gehen und ein bisschen heulen? Natürlich entschied ich mich für Letzteres. Dazu muss man sagen, dass ich normalerweise keine Heulsuse bin. Ich hatte nicht mal geweint, als ich mir bei einem Unfall beim Schlittschuhlaufen die Schulter ausgekugelt hatte, obgleich es höllisch wehgetan hatte. Doch was mir wirklich zu schaffen machte, waren solche Ereignisse wie sich vor einem riesigen Hörsaal voller Studenten zu blamieren. Ausgerechnet an meinem ersten Tag! Wenn das kein schlechtes Omen war.Ich hatte mich auf einer Kabine der Damentoilette eingeschlossen, saß mit angezogenen Beinen auf dem Klodeckel und heulte mir seit 10 Minuten die Augen aus dem Kopf, als plötzlich eine raue Stimme ertönte. "Hey, alles in Ordnung dadrin? Soll ich den Sicherheitsdienst rufen? Oder einen Krankenwagen? Oder einen Psychiater?" Das war doch die Stimme eines Kerls! Wie zur Salzsäule erstarrt blieb ich reglos auf dem kühlen Keramik sitzen. Konnte es sein, dass ich auch noch auf die falsche Toilette gegangen war? Das würde diesen Tag perfekt machen. Aber nein, ich hatte extra ganz genau auf das Kleidchen des abgebildeten Strichmännchens geachtet, ich befand mich ganz sicher auf dem Damenklo. Aber was machte dann ein Typ hier? Einzig logische Erklärung: der Hausmeister. Woran ich dachte: ein Serienkiller.
"Das ist eine Damentoilette", teilte ich demjenigen trotzdem verschnupft mit, obwohl es ihm in beiden Fällen vermutlich bewusst war.
"Ich weiß", erwiderte der Kerl, "ich bin ja auch eine Dame."
"Nein, bist du nicht", widersprach ich entschieden.
"Komm raus und ich beweise es dir." Es wäre dumm gewesen die Tür zu öffnen, wenn dort wirklich ein Serienkiller gestanden hätte, aber meine Neugier siegte über diesen abwegigen Gedanken. Und so schloss ich die Tür auf und blickte in ein paar dunkelbraune Augen. Vor mir stand die merkwürdigste Frau... Mann... Person, die ich je gesehen hatte. Er oder sie hatte lange, dunkelbraune Haare, einen milchkaffeefarbenen Teint und trug um den Mund herum einen kurzen, dunklen Vollbart. Allerdings waren die dunklen Augen eindeutig geschminkt, genauso wie seine/ihre Lippen rosa schimmerten. Bekleidet war es mit einem kurzen pinkfarbenen Kleid, dessen Ausschnitt es geradezu unmöglich machte, nicht die üppigen Brüste zu bemerken. Mindestens genauso auffällig waren die muskulösen und glattrasierten Beine, die in cremefarbenen Pumps endeten. Ich konnte es nicht verhindern, mir fiel die Kinnlade herunter.
"Ja, ich muss zugeben", lenkte das Was-auch-immer ein und fuhr sich mit der Hand durch die Haare (seine/ihre Fingernägel waren manikürt), "dass die Sache mit der Toilette etwas kompliziert ist. Die Jungs fangen meistens an zu schreien, wenn ich mich neben sie stelle und meinen Penis raushole. Die Mädchen haben damit weniger Probleme, aber sie müssen mir ja auch nicht beim Pinkeln zusehen." Es kicherte. "Trotzdem gehe ich lieber kurz vor meinen Kursen als in den Pausen. Es gibt ja überall intolerante Menschen." Es zuckte mit den Schultern, während ich es nur anstarren konnte. Was genau war es also mit einem Penis UND Brüsten? Es gab anscheinend Dinge, die uns die Nonnen in der Klosterschule nicht beigebracht hatten. Ich räusperte mich und versuchte einen unbeteiligten Blick aufzusetzen. Nicht, dass es mich am Ende auch für intolerant oder gar dumm hielt, weil mir so viel Allgemeinbildung fehlte. Aber so war es eben auf einer katholischen Schule, es gab gewisse Themen, die einfach nicht angesprochen wurden, oder wenn, dann nur äußerst ungern. So war beispielsweise Sexualkunde auf das Wichtigste reduziert und in einer Stunde behandelt worden, bevor es dann im Biologieunterricht mit dem Sezieren von Fröschen weitergegangen war. Wer konnte es mir verdenken, dass ich bei dem Anblick dieses... Wesens neugierig wurde?
DU LIEST GERADE
The Story of Ocean and Sky
Teen Fiction"Aber du würdest mich gerne kennen." Himmel, war dieser Kerl eingebildet. "Davon träumst du", spottete ich und klopfte mir innerlich vor Stolz auf die Schulter. Sein Lächeln war jedoch nicht die Reaktion, die ich darauf erwartete hatte. "Ja, viellei...