49. Ocean

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Als ich in der Mittagspause mit Remsey Skys Tisch in der Cafeteria erreichte, sah Sky zwar etwas blass, aber ansonsten wohlbehalten aus. Sie saß zwischen Cosma und einem Mädchen mit blonden Haaren und Brille, von der ich glaubte, sie auf meiner Party gesehen zu haben. Jordan saß den Beiden gegenüber, neben ihr zwei weitere Mädchen, von denen eines aussah, wie ein Model aus der Vogue, das andere unscheinbar und zart wirkte, wie eine Rose. Und neben diesem Mädchen, am Kopfende des Tisches, saß sie. Das Mädchen meiner Vergangenheit. Das Mädchen, wegen dem Michael mich hasste. Elaine.
Ihre langen, braunen Haare, fielen ihr wie immer glatt über den Rücken, während sie grimmig in ihrem Essen herumstocherte und sich an dem Gespräch der Anderen kaum beteiligte. Ich hatte lange nicht mehr mit Elaine gesprochen und dennoch versetzte mir ihr stets mürrischer und böser Blick einen Stich, wann immer ich ihr begegnete und sie ignorierte. Das war nicht die Elaine, die ich kannte, oder die, die ich mal gekannt hatte. Aber war das tatsächlich verwunderlich, nach allem was passiert war?

"Und Süße?" Ich ließ mich auf den leeren Stuhl rechts von Sky fallen, während Remsey neben mir Platz nahm. Beim Klang meiner Stimme hob Elaine alarmiert den Blick und für einen Moment, sah sie mir geradewegs in die Augen. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. Kummer? Oder ein anderes, längst vergangenes Gefühl? Doch bevor ich etwas mehr daraus lesen konnte, brach sie unseren Blickkontakt eilig ab, packte ihr Tablett und erhob sich, um stumm davon zu hasten. Die anderen am Tisch ließen sich davon jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Nur Sky fragte, ob ihr nicht jemand folgen sollte, aber das Model auf der anderen Tischseite schüttelte entschieden den Kopf. "Nachdem sie Rosemarie, Tania und mich letztes Mal so angepflaumt hat? Bestimmt nicht."
Ihr Satz traf mich mehr, als ich erwartet hatte. Selbst ihre Freundinnen verstanden sie nicht und mehr noch, es schien, als wäre Elaine ihnen egal. Ich spielte schon mit dem Gedanken, aufzustehen und ihr nachzulaufen, aber die Zeiten waren lange vorbei. Jetzt war Sky diejenige, der ich meine volle Aufmerksamkeit schenkte, als sie sich wieder an meine Frage erinnerte.
"Alles ok." Sie lächelte mir zwar zu, aber dennoch glaubte ich in ihrem Blick etwas zu erkennen, das darauf hindeutete, dass sie log. Ein Fünkchen Blamage? Schmerz?
"Wirklich?" Ich betrachtete sie aufmerksam, doch als sie lächelte und ihre Hand ganz beiläufig auf meinen Oberschenkel legte, vergaß ich meine Befürchtungen noch in der selben Sekunde. "Ja wirklich. Es hat niemand etwas gesagt."
Sie riss den Blick von mir los und hob die Hand wieder, um sich ihrem Sandwich zu widmen und ich beobachtete sie ein paar Minuten versonnen. Wie konnte jemand, während ihm BBQ-Soße den Mundwinkel hinab rann, immer noch so süß aussehen? Obwohl, war süß nicht ein viel zu kleines Wort, um Skys Anblick zu beschreiben?
Ihr langes Haar rutschte ihr über die Schulter, als sie sich weiter nach vorne, über ihren Teller beugte, da ihr die BBQ-Soße inzwischen die Finger hinunter lief.
"Oh verdammt", murmelte sie zwischen zwei Bissen und nahm das Sandwich in die andere Hand, um sich die braune Flüssigkeit von den Fingern zu lecken, was in mir ein paar Augenblicke lang, den starken Wunsch entfachte, nach ihrer Hand zu greifen und diesen Job für sie zu übernehmen, aber mal abgesehen von Skys völlig entgeisterter Reaktion darauf, waren wir immer noch von neugierigen Schülern umgeben.
"Das ist peinlich." Skys Wangen färbten sich wiedermal rosa, als sie mir zublinzelte, doch ich grinste nur und anstatt meinem Wunsch nachzugeben, griff ich nach den Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht fielen und legte sie sanft wieder über ihren Rücken, als mir ein kleines Papierkügelchen auffiel, das sich in ihren Haaren verfangen hatte.
"Du hast da was."
Sie zuckte zusammen, doch bevor sie zurückweichen konnte, hatte ich die Kugel schon befreit und hielt sie zwischen den Fingern.
"Was ist das?", wollte ich, irritiert über ihre Reaktion wissen, aber sie rief beschämt: "Gar nichts!" und versuchte mir den Zettel zu entwenden, doch ich war schneller. Flink zog ich die Hand zurück und machte mich daran, das Papier weiter zu entfalten, während sie mich mit Beteuerungen darüber, wie harmlos alles war, überschüttete. Sie wollte mich damit wohl besänftigen, doch als ich das Wort entziffere, das dort in winzig kleinen Buchstaben geschrieben stand, loderte der Zorn so heftig in mir auf, dass ich die Zähne zusammen beißen musste. Auf dem Zettel stand: Bitch.
"Wer war das?", stieß ich hervor und taxierte Sky mit bedrohlichem Blick. Wer auch immer ihr diese Botschaft übermittelt hatte, er würde es bereuen. Und Sky hatte gewusst, was auf dem Blatt stehen würde, also hatte sie mehr, als nur dieses Eine erhalten.
"Ich weiß es nicht", erwiderte Sky hastig und ihr Blick huschte über ihre Freunde, die verstummt waren und aufmerksam das Geschehen verfolgten. "Aber das ist auch wirklich nicht so schlimm", versuchte Sky mich zu beruhigen, aber damit hatte sie keine Erfolg.
"Nicht so schlimm?!", brüllte ich, ohne darauf zu achten, dass ich damit auch das Interesse der Studenten an den Nebentischen auf uns zog. "Sky, sag mit jetzt sofort wer das gewesen ist!" Meine Hände ballten sich zu Fäusten, während Skys Wangen einen tiefroten Farbton annahmen und sie sich immer wieder verstohlen umsah, um meinem Blick auszuweichen.
"Nur ein paar Mädchen aus meinem Literaturkurs, aber..." Mit beiden Händen griff sie nach einer meiner Fäuste und umschloss sie mit ihren Fingern. Ihre hellblauen Augen trauten sich meinen Blick aufzufangen und bohrten sich schließlich so intensiv in Meine, als wollte sie mich beschwören. "Das ist mir egal. Es interessiert mich nicht, was die Anderen über mich denken, nicht mehr. Ich... ich stehe da drüber." Ihre Stimme klang so flehentlich, dass ich ihre Lüge sofort durchschaute. Vielleicht versuchte sie sich ihre Wort selbst glauben zu machen und wollte nicht, dass ich mir dafür die Schuld gab, aber ich wusste, dass es sie verletzte.
"Hör auf mich anzulügen, Sky!", fuhr ich sie an und sie schreckte zurück.
"A-Aber du hast doch gesagt, dass nur wichtig ist, was wir Beide denken...", stammelte sie perplex und ihre Augen hatten sich vor Schreck geweitet. Hatte sie Angst vor mir? Ich konnte es nicht genau sagen, aber selbst wenn, konnte ich mich nicht mehr zurück halten.
"Das ist es ja auch, aber trotzdem lasse ich nicht zu, dass dich irgendjemand in irgendeiner Weise beleidigt!" Ich war während dem Sprechen immer lauter geworden und Sky immer weiter von mir abgerückt, sodass sie jetzt beinahe auf Cosmas Schoß hockte und eilig gab sie meine Hand wieder frei. Da erst realisierte ich, wie laut ich geworden war. Wie heftig ich reagiert hatte und dass Sky mich tatsächlich ängstlich anstarrte. Ihr Blick, genau wie damals im Fotografiekurs, versetzte mir einen solchen Stich, dass ich für ein paar Sekunden völlig aus der Bahn geworfen wurde und sie einfach nur anstarren konnte. Ihr verunsicherter Blick aus ihren weit aufgerissenen blauen Augen, ruhte ebenfalls auf mir und ich wusste, sie wünschte sich nichts mehr, als das ich tief durchatmete, meine Fäuste sich lösten und ich wieder runter kam, aber ich konnte nicht. Es war unmöglich. Ich hatte ihr Angst gemacht, obwohl ich sie nur beschützen wollte. Wieso hatte ich mich nicht besser im Griff? Wieso drehte ich immer gleich durch? Und warum wurde ich auf einmal von einer Flut an Erinnerungen überschwemmt, so plötzlich, dass es mir den Atem raubte? All die Bilder, die ich so lange verdrängt hatte, waren wieder da und flogen so wild durch meinen Kopf, dass mir schwindelig wurde. Marcias panischer Gesichtsausdruck, schob sich vor die Realität und Skys Augen verschwanden. Gleich danach löste sich das Bild meiner Schwester wieder auf und stattdessen tauchten Elaines tränenüberströmten Wangen vor mir auf und ihre verzweifelte Stimme überschlug sich in meinen Ohren. "Glaub mir!", schluchzte sie. "Bitte, glaub mir!"

Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildetet und ich zwang mich keuchend nach Atem zu ringen. Ich fand mich in der überfüllten Cafeteria wieder, Skys Blick war noch immer auf mein Gesicht gerichtet, aber ich konnte hier nicht bleiben. Nicht, wenn diese Erinnerungen immer noch so lebendig und ungebunden durch meinen Schädel schossen und ich sie nicht wegsperren konnte. Taumelnd erhob ich mich und drehte mich ohne ein Wort der Entschuldigung um. Ich war der Spielball meiner Emotionen und gerade tobten alle möglichen Gefühle durch mein Inneres. Wut, Hass Abscheu, Trauer, Frustration, Schuld, Reue, Angst, Zweifel, Liebe und noch mehr Wut. Ich musste mich wieder unter Kontrolle kriegen, bevor die schrecklichen Erinnerungen mich verschlangen.

Ich kümmerte mich nicht um die Menschen um mich herum, bemerkte sie nicht einmal, nicht ihre 'Hallos' oder ihre 'Wie geht's?', sondern schleppte mich ziellos weiter durch die Flure, bis ich schließlich eine Toilette erreichte und die Tür aufdrückte. Augenblicklich schlug mir der scharfe Geruch nach Reinigungsmittel und Urin entgegen, doch der Gestank war mir egal. Ich wollte mich nur in eine der Kabinen schleppen und wieder in den Ocean zurück schlüpfen, den hier alle kannten und der nicht all diese Dinge mit sich herumtrug, doch ich wurde aufgehalten.

"Ocean?"

Sie hatte so lange nicht mehr mit mir geredet und doch erkannte ich sie sofort am Klang ihrer Stimme. Ich fuhr herum und tatsächlich, dort stand sie. Ihre Haare fielen ihr um die Schultern und sie war wohl gerade dabei gewesen ihre geschwollenen, roten Augen hinter Unmengen an Schminke zu verstecken, als sie mich erkannt hatte. Hatte sie etwa gekifft? Oder warum stand sie vor dem Spiegel auf der Männertoilette? Aber Elaine und Drogen? Das passte nicht zusammen. Ob sie geweint hatte?
"Was machst du hier?", fragte Elaine zurückhaltend. Ihr widerstrebte es ganz offensichtlich mit mir zu sprechen, aber ich  brachte sowieso kein Wort heraus. Ich war so aufgewühlt, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte und in diesem Zustand ausgerechnet vor ihr zu stehen, war nicht unbedingt das Beste für mich.
"Ocean?", wiederholte Elaine irritiert und räusperte sich. "Ähm... das ist das Mädchenklo..."
Ich verstand ihre Worte gar nicht richtig, alles worauf ich mich konzentrierte war ihr Gesicht, ihre braunen Augen, ihre vollen Lippen, ihre glänzenden Haare, ihre Stimme... und dann flammte vor mir all das auf, was er getan hatte und mir wurde so übel, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte.
"Ocean, du machst mir Angst."
"Es tut mir Leid", flüsterte ich und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. "Es tut mir so Leid."
Meine Stimme war so rau, dass mein Hals zu brennen begann, als Elaine den Kopf schüttelte. Langsam zuerst, dann immer heftiger und schließlich packte sie ihre Tasche, die auf dem Boden stand und warf mir einen so geschockten und fassungslosen Blick zu, dass ich am liebsten die Augen geschlossen und in ein schwarzes Loch gefallen wäre. Ein Loch, in dem es nur Nichts gab, keine Gedanken, keine Gefühle, nicht mal mich selbst.
"Lass mich in Ruhe. Rede... rede nie wieder mit mir!", brachte Elaine stockend hervor, dann hechtete sie an mir vorbei zur Tür und ließ mich alleine. Alleine mit der ganzen Scheiße meiner Vergangenheit, die Scheiße meines Lebens. So alleine, wie ich immer alleine war.

-Ende von Kapitel 49.- So, jetzt ist das kleine Geheimnis von Oceans verflossener Liebe gelüftet, was aber sofort wieder neue Fragen aufwirft. Es muss ja spannend bleiben... ;)

Und was ich Euch noch erzählen wollte: Wie Ihr vielleicht schon in der Überschrift oder in den Tags der Geschichte gesehen habt, mache ich bei den Creativity Awards 2017 mit. Dabei geht es vor allem um Eure Meinung. Das heißt, wenn Euch diese Gesichte gefällt, würde ich mich sehr freuen, wenn Ihr für mich voten würdet. :* Die Votingphase geht vom 1.März 2017-23.März 2017. Alle näheren Informationen findet Ihr in dem Buch: Creativity Awards 2017 hier auf Wattpad.

Schon mal Danke im Voraus und eine wunderschöne Woche Euch allen! <33

The Story of Ocean and SkyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt