03. Aufgabe

11K 304 22
                                    

Langsam tauchte ich aus dem Schlaf auf. Von der anderen Seite hörte ich ein gleichmäßiges Atmen. Liam. Sofort war ich hellwach. Alles in mir zog sich vor Freude zusammen. Ein neuer Tag mit Liam. In meinem Bauch flatterte es. Ich musste unwillkürlich grinsen. Schmetterlinge im Bauch? So kitschig sich das auch anhörte, irgendwie war da auch was dran. In mir stieg ein ungekanntes Gefühl auf, und ich wollte am liebsten die  ganze Welt umarmen. Aber im Moment kam dafür nur Liam in Frage... Mit einem Ruck setzte ich mich auf, so schnell dass mir ein wenig schwarz vor Augen wurde. Mein Blick fiel sofort auf Liam und dann auf meine Unterwäsche, die zum Trocknen über der Bettkante aufgehängt war. Uuups... Musste ich jetzt den Rest meines Lebens ohne Klamotten verbringen? Sofort war ein Teil meiner Hochstimmung verflogen. Ich sprang auf und zog schnell meine Sachen an. Liam drehte sich auf die andere Seite und grummelte irgendetwas. Dann seufzte er und vergrub seinen Kopf wieder in sein Kissen. Ich lächelte. Süß! Augenblicklich kehrte meine gute Laune zurück. In meinen Kopf stieg die Melodie meines Lieblingsliedes und ich fing an zu summen.

Mit meinen Fingern durchkämmte ich meine Haare und wischte mir den Schlaf aus den Augen. Zu gerne hätte ich mich jetzt gewaschen und meine Zähne geputzt, aber darauf würde ich verzichten müssen. Trotzdem fühlte ich mich gut. Ich hätte tanzen und aus vollem Hals singen können. Hallo? Wie krank ist das denn? Ich bin entführt worden?! Manu, reiß dich zusammen! Ja, ich wurde vielleicht entführt, aber mit dem süßesten Jungen der Welt!

Ich riskierte einen kurzen Blick zu Liam, der immer noch schlief. Von einem überschäumenden Glück gepackt fing ich an zu tanzen, einfach so aus dem Bauch heraus. Während ich mit geschlossenen Augen vor und zurück sprang, glaubte ich fast die Klänge der Musik zu hören. Zu spät merkte ich, dass ich einen Beobachter hatte. Bei einer gekonnten Drehung um mich selbst traf ich plötzlich ein Bein. Erschrocken riss ich die Augen auf und blickte genau in das Gesicht von Liam, der mich angrinste. Schlagartig verwandelte sich die Farbe meines Gesichtes von normal in knallrot. Ich hatte in Unterwäsche vor Liam getanzt.

Schlimmer konnte es garnicht kommen. Ich schloss einfach die Augen und bewegte mich nicht. Einfach so tun als wäre ich nicht da... Ich hatte große Pläne gehabt, ich wollte Liam beeindrucken, mit ihm Spaß haben, ihn umarmen... Stattdessen blamierte ich mich erstmal. Auf einmal spürte ich zwei starke Arme um meine Taille, die mich näher an Liam zogen. "Du hast ja anscheinend gute Laune!" hauchte er mir ins Ohr und ich bekam eine Gänsehaut. "Hm...ja, ein bisschen..." Ich lächelte zaghaft. Er lachte. Dann schlang er seine Arme noch fester um mich und drückte mich kurz an sich, um mich dann wieder loszulassen.

Schnell rannte ich wieder zu meinem Bett um nach der Wolldecke zu greifen, doch er griff nach meiner Hand und zog mich weg. "Lass das!" sagte er und hielt mein Handgelenk sanft fest. "Ich hab dich doch sowieso schon in deiner Unterwäsche gesehen." "Na und?" Ich runzelte die Stirn, doch er fasste meine Hand noch fester. Er überlegte. "Hier!" sagte er dann und streifte mir seinen Kapuzenpulli über. Er war warm und weich und er roch so unglaublich nach Liam. Ich atmete tief ein. "Danke!" Ich lächelte ihn an. Seine Augen sogen meinen Blick fest und mir wurde schwindelig. Bevor ich zur Seite kippte, hielt er mich schnell an den Schultern fest. "Alles Okay?" sagte er belustigt und in dem Moment wurde mir klar, dass er wusste, wie seine Blicke auf mich wirkten.

Das ärgerte mich. Noch immer hielt sein Blick meinen fest. Meine Knie waren weich wie Butter. Trotzdem wollte ich mich nicht von ihm unterkriegen lassen. Also machte ich zaghaft einen Schritt auf ihn zu. Verwundert runzelte er die Stirn. Meine Finger strichen sanft über seine ganz kurzrasierten Haare, was mich schmerzhaft an unsere "1. Aufgabe" errinerte. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut, unsere Gesichter waren ganz nah. Ich bewegte meinen Kopf immer näher zu seinem, bis ich seine Nase fast berührte. Er schluckte. Ich musste grinsen und trat schnell einen Schritt zurück. Was er konnte, kann ich schon lange! dachte ich zufrieden. "Das ist nicht fair!" meinte er überrascht. "Was?" "Na das!" Ich zuckte mit den Schultern und er kniff die Augen zusammen und lächelte mich an. Doch dieser ganz besondere Moment wurde von der Luke unterbrochen, die unser Frühstück, Zahnputzzeug und einen neuen Zettel ausspuckte.

Liam wollte aufspringen, doch ich klammerte mich in seinem T-shirt fest. "Nein!" rief ich. "Lass uns erst essen und dann diesen bescheuerten Zettel lesen! Ich lasse mir meine gute Laune nicht verderben!" Nachdenklich befreite er sich aus meiner Umklammerung. Dann nickte er seufzend. Ich merkte aber, wie er beim Essen immer wieder den Zettel, der immer noch auf dem Tablett lag, betrachtete, als versuche er zu erraten, was auf ihm stand.

Sofort nach dem essen stürzte er sich auf das Stück Papier, ich mich auf die Zahnbürste. Während ich erleichtert und gründlich meine Zähne putze, las er vor:

Wie wir sehen, sind alle wieder gesund und munter! Aber nicht mehr lange. Esst zuerst, dann sehen wir weiter.

Ich schüttelte nur ungläubig den Kopf. Das war ja gar keine Aufgabe, sondern nur eine leere Drohung! Liam sah sehr erleichtert aus. Wahrscheinlich hatte er gedacht, ich müsste wieder etwas für ihn holen. "Echt komisch, oder?" durchbrach er die Stille zwischen uns. Ich nickte. "Als ob unser Entführer nicht ganz wüsste, was er eigentlich mit uns anstellen möchte!" Liam schnappte sich ebenfalls seine Zahnbürste. "Er ist ein kranker Irrer!" murmelte er verbissen.

"Das bin ich nicht!" Die kalte, emotionslose Stimme kam von nirgendwoher. Erschrocken zuckte ich zusammen. Dieser gefühllose Ton schnitt durch meinen ganzen Körper und ließ mich zittern. Die Projektion über meinem Bett war angesprungen und flimmerte in einem schwachen Licht. Der Mann im schwarzen Umhang schien mich mit seinen Blicken zu durchbohren. Ich sah rüber zu Liam und erschrak. Er sah so wütend aus, so unberechenbar. Auf einmal fing er an zu brüllen. "Du Mistkerl! Was denkst du dir eigentlich? Du bist nichts weiter als ein VERRÜCKTER, der in die KLAPSE gehört! Lass uns in Ruhe!" Zornig sprang er auf und hob drohend die Faust. "Lass SIE in Ruhe!" Unser Entführer lachte verächtlich. "Spiel hier nicht den Helden, Kleiner! Ansonsten..." Schnell hielt ich Liam fest, der rasend war vor Wut. Ich versuchte seine geballten Fäuste festzuhalten, aber er war viel stärker als ich. "Bitte Liam!" schrie ich. "Hör auf!" Er sah mich an, seine Augen waren fast schwarz vor Wut. Doch als er mich anblickte trat ein sanfter Zug in sie und langsam entkrampften sich seine Fäuste. Mit gefährlich leiser Stimme wandte er sich noch einmal dem Mann auf der Projektion zu, der bis jetzt geschwiegen hatte. "Tut ihr ihr noch EINMAL weh, dann seid ihr tot."

Der Mann stand steif dar und schwieg. Torenstille herrschte und ich bekam Angst. Doch dann sagte er etwas, was alles verändern würde.

"Eure nächste Aufgabe: küsst euch oder sterbt."

EntführtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt