Was wäre, wenn...?

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Richmond, 2011

Seitdem ich mir meiner Fähigkeit bewusst war, ging ich jeden Abend früher ins Bett, meist mit der Ausrede, noch ein spannendes Buch lesen zu wollen und übte.

Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten, das Kribbeln und somit die Fähigkeit in meinen Fingern hervorzurufen, doch mit der Zeit fiel es mir immer leichter. Zuerst übte ich mit leichten Dingen, meinen Stiften, einem Blatt Papier und sogar mit Chris' Autoschlüsseln.

Als ich es immer besser beherrschte, fing ich an, schwerere Dinge zu bewegen wie meine Bücher. Ich hatte das Gefühl, dass Sandra und Chris spürten, dass etwas anders war, sie jedoch nicht genau feststellen konnten, was. Meine geheimen Übungsstunden brachten mich aber so einige Male in brenzlige Situationen.

Eines Abends flog ein Vogel gegen mein Fenster und der Aufprall erschreckte mich so sehr, dass ich die sieben Bücher, die ich in meinem Zimmer herumschweben hatte lassen, mit einem lauten Knall zu Boden fallen ließ.

Als Sandra und Chris sofort herangeeilt kamen zeigte ich ihnen den toten Vogel und war froh, dass sie nicht weiter auf das Bücherchaos in meinem Zimmer eingingen. Glück gehabt.

Außerhalb davon hatte ich meine Fähigkeiten noch nie benutzt, noch nie wirklich benutzt. Doch dieser eine Tag veränderte alles und zeigte mir, dass sie wohl auch praktische Seiten an sich hatten.

Es war eigentlich ein Tag wie jeder andere, in der Früh wurde ich von Sandra geweckt, aß mein Müsli und ging dann zu Fuß zur Schule, die nicht so weit weg war, dass man dafür mit dem Fahrrad oder sogar mit dem Bus hätte fahren müssen.

„Lou!", wurde ich erfreut von meiner Freundin Emily begrüßt, die direkt neben mir saß. Sie war meine engste Freundin und zugleich auch die einzigste, denn die Beziehungen zu den anderen Mädchen in meiner Klasse konnte man eigentlich keine richtigen „Freundschaften" nennen.

„Hallo Ems!" Ich packte meine Sachen aus und wir hatten kaum Zeit uns richtig zu unterhalten, da ging auch schon der Unterricht los.

Ich war nie eines der Kinder gewesen, die sich problemlos mit anderen anfreunden konnten, ich war mir jedoch auch sicher, dass ich nicht die einsame, alleingelassene Einzelgängerin war, die jeden mied und mit der keiner auskam.

Es war nur so, dass es mir schwerfiel zu anderen ein gewisses Vertrauen aufzubauen, dass meiner Meinung nach aber zu jeder Beziehung, egal ob Freundschaft oder Liebe, gehörte. Kurz gesagt, ich war zwar schüchtern, doch trotzdem freundlich und versuchte, einigermaßen mit allen auszukommen.

Deshalb war ich auch mehr als überrascht als sich mir auf dem Heimweg plötzlich drei Jungs, die meiner Einschätzung nach ein Jahr älter als ich waren, in den Weg stellten.

Ich blieb wie angewurzelt stehen und konnte nicht entscheiden ob ich einfach weitergehen oder doch lieber wegrennen sollte. Zu spät, denn da kamen sie auch schon näher und unkreisten mich.

„Wir haben gehört, du bist adoptiert.", sagte der größte der drei, der sich direkt vor mir aufgebaut hatte. Ich war verwirrt.

„Kenne ich euch?" Sie lachten.

„Hast du Angst?", fragte er nun provozierend. Ich sah mich um.

Ich war alleine, meilenweit keine anderen Fußgänger in Sicht und ich hätte noch mindestens fünf Minuten nach Hause gebraucht.

„Lasst mich in Ruhe!" Der eine packte mich plötzlich am Arm und bog ihn nach hinten. Ich schrie auf.

„Hilfe! Lass mich los!" Da kam der zweite auch auf mich zu und versuchte, mir den Mund zuzuhalten.

„Dursucht ihren Rucksack!", befahl der größte, anscheinend der Anführer der drei. Nun kam mir auch wieder in den Sinn, dass ich sie schon öfter andere Kinder auf dem Schulhof ärgern hatte sehen. Und ich war ihnen nun direkt in die Falle getappt.

„Vielleicht hat sie ja Geld oder was anderes dabei."

In dem Moment fiel es mir ein. Ich hörte auf, den Jungen der mich festhielt mit meiner freien Hand zu kratzen und konzentrierte mich ganz auf das Gefühl in meiner Hand.

Das Kribbeln kam schneller als erwartet, die ganzen Übungsstunden schienen sich gelohnt zu haben. Ich war mir nicht sicher, ob es funktionieren würde, bisher hatte ich das nur mit leblosen Gegenständen wie mit meinen Büchern oder Heften versucht. Aber in diesem Augenblick war es meine einzige Möglichkeit zu entkommen.

Ich wollte schon aufgeben, da fühlte ich die vertraute Verbindung zwischen zwei Gegenständen und ich zog daran, so fest ich nur konnte. Augenblicklich schrie der Junge, der mir den Arm so schmerzhaft auf den Rücken drehte, auf, ließ mich augenblicklich los und hielt sich seine Hand.

„Was hast du gemacht?", schrie er, mehr panisch als unter Schmerzen. Der andere, der mir die Hand auf den Mund hielt, ließ ebenfalls sofort von mir ab und stürzte zu seinem Freund.

„Sie hat mich angegriffen, macht sie fertig!", befahl er. Ich zögerte. Einen Trumpf gegen die drei hatte ich noch, ohne mein Geheimnis vollständig zu enttarnen.

Ich hielt die Hand hoch, die nun wieder bläulich schimmerte.

„Seht ihr das? Wenn einer von euch mir zu nahe kommt, mache ich mit euch dasselbe wie mit ihm!" Ich zeigte auf den, der sich immer noch die Hand hielt. Sie beäugten meine Hand einige Sekunden lang, entschieden dann doch, dass es das anscheinend nicht wert war.

„Haut ab! Sie ist eine Hexe! Eine Hexe!" Dieser Satz begleitete mich in den folgenden Monaten in meinen Alpträumen und schien immer schlimmer zu werden, je öfter ich ihn hörte.

~~~

Als ich zu Hause ankam, löste sich mein Plan, das Ganze auf keinen Fall zu erwähnen, in Luft auf. Mein ganzer Arm war knallrot und ich hatte einen Kratzer auf meiner Backe. Sandra, die an genau diesem Tag früher Schluss gemacht hatte, stürzte sich sofort voller Mitleid auf mich und verfrachtete mich ins Badezimmer, wo sie mir mit Sorgfalt ein Pflaster auf die Wange klebte.

„Wie ist das passiert, Schatz?" In ihrer Stimme klangen Sorgfalt, aber auch ein gewisser Beschützerinstinkt mit, was mich zu tiefst rührte. Ich war trotz meiner selbstbewussten Befreiungsaktion verängstigt und shmiegte mich an sie. Ich beschloss, die Wahrheit zu erzählen.

„Da waren diese Jungs... ich glaube, sie wollten mich erpressen, der eine hat meinen Arm auf den Rücken gedreht und dann war da noch ein anderer... der hat meinen Rucksack durchsucht und..."

„Und dann hast du dich gewehrt?", beendete sie den Satz für mich. Ich nickte, wollte boch etwas sagen, doch sie schnitt mir das Wort ab.

„Ich bin so stolz auf dich, Schatz. Und wir werden diese Kerle anzeigen, das verspreche ich dir!"

Eigentlich hatte ich die ganze Wahrheit erzählen wollen, aber wie sie es sagte, klang es viel besser und glaubwürdiger. Vielleicht war es geschickter mit der ganzen Wahrheit noch ein Weilchen zu warten.

Die nächsten Nächte schlief ich schlecht, ich träumte davon, dass die Jungen allen erzählten zu was ich fähig war.

Ich saß auf einem Stuhl in einem riesigen Saal und da waren Menschen, tausende... Sie schrien etwas. Erst verstand ich es nicht richtig, doch dann...

„Sie kann zaubern! Hexe!" Ich sah Sandra und Chris, die beiden standen am Rand der Menge und blickten mich an. Doch ihre Gesichter zeigten keinerlei Gefühle, sie starrten mich an als wäre es ihnen egal, als wäre ich ihnen egal, ein fremd gewordenes Kind.

Das war der Augenblick in dem ich beschloss, dass sie es nie, niemals erfahren durften. Unter keinen Umständen.

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