Richmond, 2005
Ich saß in meinem neuen Zimmer und räumte mit Sandra die wenigen Sachen, die ich besaß, in die Schränke ein.
Das Zimmer war wundervoll, die Wände beige und die Möbel ganz in weiß gehalten. An den Wänden hingen außerdem Poster von meinen Lieblingsserien im Fernsehen, mit großer Begeisterung erkannte ich die kleine Meerjungfrau, meinen Lieblingsstar. Woher Sandra wohl davon wusste? Das Zimmer hatte außerdem noch ein Fenster, das nach hinten in den Garten hinausging und davor stand eine kleine Fensterbank mit einem Fell.
„Gefällt dir dein neues Zimmer?", fragte Sandra, als sie sich zu mir herunterbeugte. Ich nickte stumm, zu schüchtern, da wir nun ganz alleine waren. Ich ließ die wenigen Shirts, die noch gestapelt im Koffer lagen liegen und sah aus dem Fenster. Es war Herbst und der Wind fegte die roten, orangenen und braunen Blätter durch den Garten.
Sandra kam zu mir und sah ebenfalls nach draußen. Sie zeigte auf eine Stelle im Garten.
„Siehst du die Figur?"
Ich strengte meine Augen an und erkannte schließlich ein kleines Kaninchen aus Ton, das zwischen einem Blumenbeet und der Terrasse stand. Eine mittelgroße Buchenhecke umschloss den Garten nach hinten zu einem Weg, der durch das gesamte Viertel lief und die Gärten der Häuser dadurch verband.
„Die habe ich selbst gemacht", erklärte mir Sandra. „Letztes Jahr in einem Töpferkurs. Wenn du willst können wir so was auch mal zusammen machen." Ich nickte, konnte mir darunter aber nichts genaueres vorstellen.
Ich war erst seit gestern hier und hatte mich noch nicht ganz an den neuen Geruch des Hauses gewöhnt. Hier war es so anders als im Waisenhaus. Das Erste, das mir beim Hereinkommen aufgefallen war, waren die Dekorationen und Bilder, die überall im Haus hingen. Ich hatte sogar ein Bild von mir entdeckt, das vor zwei Jahren gemacht worden sein musste. Hatte Anne es ihnen gegeben?
Ich vermisste sie jetzt schon und hatte sie vor allem gestern Abend beim Einschlafen schmerzlich vermisst. Obwohl Chris sich zu mir ans Bett gesetzt und ein Märchen vorgelesen hatte.
„Komm, lass uns weiter auspacken. Ich habe unten sogar noch eine Überraschung für dich", zwinkerte Sandra mir zu.
Wir waren schneller mit dem Auspacken fertig als ich es erwartet hatte und als ich anschließend nach unten ins Wohnzimmer stürmte, erwartete mich ein riesiger Plüschdelfin, der wirklich unglaublich riesig war. Aber auch süß!
„W-Wofür ist der?" Ich war es wirklich nicht gewohnt einfach so Geschenke zu bekommen, im Waisenhaus geschah das nur ein Mal im Jahr. Am Geburtstag des jeweiligen Waisenkindes. Mrs Greek hatte schon vor Jahren entschieden, dass Geschenke an Weihnachten sowieso Unsinn waren, da der eigentliche Sinn des Festes nicht in Geschenken sondern in der Liebe zur Familie und Freunden lag, so hatte es mir jedenfalls Anne erzählt.
„Einfach so, Louise. Wir wollen dir eine Freude machen, du hast ja sonst keine anderen Kuscheltiere. Freust du dich nicht?" Sie sah ein bisschen traurig aus.
„Doch! Wir haben nur sonst nie Geschenke bekommen..." Sie kam zu mir und nahm mich in den Arm.
„Alles wird jetzt anders, das verspreche ich dir."
~~~
„Wann kann ich endlich Anne wiedersehen?" Es war jetzt schon ein Monat vergangen, seit ich in meinem neuen Zuhause eingezogen war und man musste sagen, ich hatte mich ganz gut eingelebt. Sandra und Chris behandelten mich wie ihr eigenes Kind, obwohl sie wirklich noch sehr jung waren, Sandra erst einundzwanzig und Chris dreiundzwanzig.
Sie hatte mir erklärt, dass sie sich in der Schule kennengelernt hatten und vor zwei Jahren geheiratet hatten. Auch wenn sie erst so jung waren konnte ich mir keine netteren Menschen als sie vorstellen. Na ja, außer Anne.
„Anne hat zurzeit sehr viel zu tun, Lou. Wir haben mit ihr gesprochen und sie hat gesagt, dass sie ein neues Kind bekommen haben, um das sie sich kümmern muss. Aber ich soll dir ganz liebe Grüße ausrichten und sie hat dich ganz doll lieb!", sagte Chris, der gerade in der Küche stand und seinen Kaffee trank.
Chris arbeitete in einer Bank in London und musste deshalb immer sehr früh zur Arbeit losfahren, da es ein langer Weg mit dem Underground war. Mit dem Auto zu fahren kam ihm gar nicht in den Sinn, der Berufsverkehr machte es unmöglich das in einer normalen Zeit zu schaffen.
Bei Chris' Worten stiegen mir fast Tränen in die Augen, ich konnte das Loch in meinem Herzen, das Anne hinterlassen hatte, nicht länger ignorieren. Als die Tränen über meine Wangen liefen, rannten die beiden sofort zu mir und nahmen mich in den Arm.
„Glaubt ihr, sie hat mich vergessen?", schluchzte ich. „Sie hat ein neues Kind, das sie lieber mag als mich?" Sandra hob meinen Kopf von ihrer Schulter und sah mir ernst in die Augen.
„Lou, das würde sie nie tun. Sie wollte so gerne kommen, aber sie konnte nicht." Jetzt sah ich, dass auch ihr Tränen über die Wangen liefen. „Sie konnte nicht", wiederholte sie leise.
„Komm, ich bringe dich in dein Zimmer." Anders als Chris arbeitete Sandra in einem Kindergarten hier in der Nähe. Sie hatte sich aber zwei Wochen frei genommen, um bei mir zu bleiben bis ich mich eingewohnt hatte und brachte mich normalerweise eine Stunde nachdem Chris gegangen war in den Kindergarten.
Sandra nahm mich auf den Arm und trug mich bis in mein Zimmer.
„Willst du vielleicht noch ein bisschen spielen, ich habe noch was mit Chris zu besprechen." Sie wischte mir noch eine Träne von der Wange und ging dann wieder die Treppe hinunter. Ich folgte ihr und blieb hinter dem Treppengeländer stehen. Die Küchentür stand einen Spalt offen und man konnte die beiden deutlich hören.
„Was hast du dir nur dabei gedacht?!", fragte Sandra Chris in wütendem Ton. Ich konnte sehen dass sich Chris erschöpft auf einen Stuhl am Tisch sinken ließ und einen großen Schluck von seinem Kaffee nahm.
„Was hätte ich denn sonst tun sollen? Sie ist erst fünf, Sandra!"
„Nein, sie ist schon fünf! Irgendwann müssen wir es ihr sowieso sagen." Sie stoppte und erwiderte dann etwas leiser: „Ich kann nicht fassen dass du sie belogen hast, Chris." Der Stuhl schabte über den Boden und Chris schrie fast, als er ihr antwortete.
„Ach ja, was soll ich ihr denn sagen? Dass die Person die sie am meisten liebt bei einem Autounfall umgekommen ist? Sag du das mal einem fünfjährigen Kind, das ohne Liebe und Familie aufgewachsen ist!" Ich zuckte zusammen, als seine laute Stimme mich erreichte und rutschte auf der Treppe aus.
Vom Geräusch aufgeschreckt rissen beide die Küchentür auf und sahen mich am Ende der Treppe liegen.
„Es tut mit so Leid, Lou." Sandra hob mich hoch und drückte mich fest. „Hast du dir wehgetan?" Ich schüttelte den Kopf und verstand nicht ganz, was sie vorhin gemeint hatte.
„Was hast du damit gemeint, sie ist bei einem Autounfall umgekommen?" Ich wusste instinktiv, dass sie von Anne gesprochen hatten.
Sandra warf Chris einen strafenden Blick zu. „Anne ist... hatte... einen Autounfall, Lou. Sie ist jetzt im Himmel."
„Sie ist tot?", hakte ich ungläubig nach. Natürlich kannte ich die Bedeutung, ich hatte mal eine Katze gehabt, Daisy. So hatte ich sie jedenfalls getauft, nachdem sie mir vor dem Waisenhaus öfters über den Weg gelaufen war.
Anne hatte mit mir, Hand in Hand, einen Spaziergang gemacht und Daisy war uns öfters hinterhergelaufen. Bis sie vor unseren Augen vor einem Auto überfahren wurde.
Anne hatte gesagt dass Daisy nun im Himmel war aber ich konnte es nicht begreifen, als ich den schlaffen Körper der Katze betrachtet hatte. Und dasselbe sollte nun auch mit Anne passiert sein?
„Wird sie nie mehr zurückkommen?" Beide schüttelten nur den Kopf und umarmten mich noch fester. Ich fing an zu weinen und wusste nicht, ob ich jemals wieder aufhören würde.
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Wer hat noch eine klitzekleine Träne vergossen?
Kommentiert& votet wenn euch das Kapitel gefallen hat ^^
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Something like magic
FantasyLouise Cartier ist siebzehn, adoptiert und lebt in London. Oh, und sie kann Telekinese. Eine Fähigkeit, mit der sie Gegenstände mit nur einer Bewegung ihrer Hände durch die Luft wirbeln kann. Sehr nützlich, wenn man auf der Couch liegt und die Chi...