29. - Zeit zum Gedankenordnen

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~ Wir leben zu sehr in der Vergangenheit, haben Angst vor der Zukunft und vergessen dabei völlig, die Gegenwart zu genießen. ~

Während ich noch halb am Schlafen war, hatte Kylan Priya zu sich beordern lassen. Einer seiner Angestellten hatte sie aus der Zelle geholt. Ich war noch völlig benebelt von meinem seltsamen Gespräch mit Nighe gewesen, weshalb nicht nicht die Chance zur Flucht ergriffen hatte. Man hatte mir weder eine Erklärung, noch etwas zu Essen dagelassen. Zusätzlich plagte mich mein schlechtes Gewissen, weil ich nicht sicher sein konnte, dass Priya nicht doch bestraft wurde.

Allmählich erhellte schwaches Tageslicht die dunklen Winkel der Zelle. Durch das Gewitter ließ sich nicht genau bestimmen, ob ein neuer Tag anbrach oder fortgeführt wurde. Ich hasste das Gefühl der Unbestimmtheit, das mich mit einem Mal kam. Absolut nichts war sicher. Weder meine Zukunft, noch welchen Tag wir überhaupt hatten. Und trotzdem quälte mich bereits eine unnatürliche Langeweile. Ohne Priya hatte ich niemanden zum Reden. Ich ließ die ganzen Ereignisse der letzten Woche durch meinen Kopf laufen und rechnete.

Am Montag war Nighe mit seinen Verbündeten auf unsere Schule gekommen.
Den Abend darauf hatten sie bei uns zu Abend gegessen.
Am nächsten Morgen war ich nach Arda verschleppt worden.
Donnerstag, Freitag und Samstag waren vollständig für sein Training draufgegangen.
Womit wir dann heute bei Sonntag wären.

Das konnte unmöglich sein! Morgen wäre mein Geburtstag, wenn meine Berechnungen zutrafen.  Ich würde meine Kräfte erhalten. Ganz alleine in einer dunklen Zelle. Kein Milo, der mir versprochen hatte, mir beizustehen. Niemand war sich sicher, was dabei genau geschah. Ich könnte durch einen Überschuss an Magie einen Herzstillstand erleiden oder mich gleich selbst zerstören. Nackte Panik machte sich in mir breit und ich bereute, dass ich mich nicht der Langeweile hingegeben hatte. Was sollte ich jetzt tun? Eigentlich hatte ich keine andere Möglichkeit, als abzuwarten. Aber mir musste etwas einfallen, alleine würde ich das nicht durchstehen können!

Ein winziger Teil meiner Angst verwandelte sich schlagartig in Vorfreude. Wie meine Kräfte wohl wirken würden? Die meisten Feen mussten sich das volle Ausmaß ihrer Kräfte in den jungen Jahren erarbeiten. Ich wusste nicht, ob das bei mir auch der Fall war oder ob sie im gesamten sogar wahnsinnig schwach durch das menschliche Blut in meinen Adern sein würden. Jedenfalls freute ich mich auf das magische Prickeln der Macht und Magie in meinen Adern, von dem mir schon so viele Wesen in meinen Alter vorgeschwärmt hatten.

Ein Klacken holte mich aus meinen übertriebenen Gedanken zurück in die harte Realität. Ein neues Tablett fand den Weg durch die schmale Klappe in der Tür und schlitterte auf mich zu. Verdutzt beobachtete ich, wie es sich verwandelte. Es hob sich in die Luft, während sich vier Stäbe unter ihm bildeten und es zu einem kleinen Tisch werden ließen. Als es sich dann auch noch direkt vor mir platzierte, musste ich mich einfach von seiner Echtheit überzeugen.

Vorsichtig streckte ich eine Hand aus und siehe da, es löste sich nicht wie angenommen auf. Hier hatte jemand extra Magie angewandt und nicht nur eine einfache Illusion geschickt. Aber weshalb man seine Kräfte verschwendete, um einer Gefangenen Essen zu liefern, war mir schleierhaft.

Ein Gedanke hatte sich unwillkürlich in meinem Kopf festgesetzt. Gebannt saugte ich jede Einzelheit des einfachen Tabletts in mich auf und suchte nach mehr oder weniger auffälligen Besonderheiten. Die magische Aura, die jeden Gegenstand umgab, der mit Magie in Kontakt gekommen war, blieb mir nicht verborgen.

Ich könnte so etwas in der Art als erste Anhaltspunkte für meine eigene Magie nehmen. Zuerst sollte ich lernen, meine Kräfte zu bündeln und dann auf einen Gegenstand konzentrieren. Dieses Tablett gab ein wunderbares Versuchskaninchen ab. Das Ganze klang wahrscheinlich einfacher, als es tatsächlich war, doch darüber wollte ich nicht nachdenken. Ich hatte ein Ziel, das ich in nächster Zeit nicht aus den Augen verlieren würde. Je mehr ich über den Zauber des Tabletts herausfand, desto leichter würde es mir morgen fallen.

Das alte Tablett begann zu ruckeln und das leere Glas kippte um. Zuerst löste sich die unangerührte Pampe auf, dann das Wasserglas und letztendlich das Tablett selbst. Mit großen Augen starrte ich auf die Stelle, an der vor wenigen Sekunden noch das Tabeltt gestanden hatte.

War ich etwa so furchteinflößend, dass die Wachen sich nicht persönlich zu mir in die Zelle trauten? Hielten sie mich vielleicht wie Kylan für einen Menschen und fanden mich abstoßend? Obwohl ich oft solche Gedanken hatte und auch von vielen Wesen so behandelt worden war, spürte ich einen unangenehmen Stich im Herzen. Alle Wesen waren gleich, ob auf der Erde oder unserem Heimatplaneten. Selbst die Hölle bildete da nur eine kleine Ausnahme.

Ich nahm mir vor, allen zu beweisen, dass ich mehr war als nur eine einfache Halbfee. Oder der Mensch, für den mich scheinbar so viele hielten. Jetzt blieb nur noch die Tatsache, dass ich keinen Schimmer hatte, wie ich das anstellen sollte.

Seufzend schloss ich die Augen, um meine Konzentration zu fördern. Doch man konnte nichts erzwingen, so sehr ich mich auch um eine Lösung bemühte. Das Schicksal musste einfach etwas für mich bereithalten. Resigniert öffnete ich die Augen einen Spaltbreit. Ohne, dass ich es verhindern konnte, fielen sie mir wieder zu. Ich kämpfte gegen die plötzliche Müdigkeit, verlor den Kampf jedoch haushoch.

Dieses Mal konnte ich mich ohne Probleme oder das Wattegefühl in dem Nichts bewegen. Ich blickte mich gründlich um. Ich war allein, Nighe war nirgends zu entdecken. Wie war ich dann hierher gelangt? Alleine konnte ich doch niemals geschafft haben, oder? Wenn überhaupt erlangte ich den Zugriff auf Magie erst morgen. Es sei denn, dieses Seelenspaltungs-Ding hatte irgendetwas in mir sehr stark verändert. Seufzend blies ich die Luft aus meinen Lungen und legte den Kopf in den Nacken. Selbst über mir war nichts, einfach nur grau. Ich stand auf und ging ein paar Schritte. Nichts veränderte sich. Wie kam ich hier nur wieder weg?

Aus Ideenmangel rannte ich los. Schon nach wenigen Schritten rief mich jemand zurück. Erleichtert drehte ich mich um, in der Erwartung, Nighe zu sehen. Doch da stand niemand. Scheinbar kamen jetzt auch noch Halluzinationen hinzu.

»Komm zurück!« Die Stimme hallte verzerrt von den nicht vorhandenen Wänden wider, weshalb ich sie niemandem zuordnen konnte. Wieder sah ich mich um und flitzte los. Die Bewegung tat gut, das "Training" mit Priya hatte meinem Bewegungsdrang keinen Abbruch getan. Obwohl ich mich selbst als das unsportlichste Wesen beider Welten bezeichnen würde, stoppte ich nicht.

»Mila, wo rennst du hin? Bleib stehen und warte, ich komme zu dir.« Jetzt erkannte ich definitiv Nighes Stimme und er klang deutlich näher, obwohl ich ihn immer noch nicht sehen konnte.

»Wo bist du denn? Ich sehe dich nicht!«, rief ich und kam mir dabei reichlich albern vor. Vielleicht bildete ich mir das alles doch nur ein und saß eigentlich schreiend in meiner Zelle.

»Du bist auf einer doppelten Zwischenebene gelandet, weswegen wir uns nicht sehen können. Ich hole dich zu mir«, antwortete er augenblicklich. Auf einer doppelten Zwischenebene? Wie hatte ich das denn geschafft?

»Tut das weh?«, erkundigte ich mich peinlich berührt. Das schreckliche Gefühl der Unbeweglichkeit hing mir immer noch nach und ich brauchte in naher Zukunft keine Wiederholung.

»Soweit ich weiß nicht. Warte einen Augenblick und entspann dich!« Ich schloss die Augen und ließ die Schultern kreisen, um die Anspannung meines Nackens und meiner Schultern zu lockern. Wenn Nighe sich sicher war, dass es nicht wehtat, dann war das auch so und wenn nicht, sollte er besser seine letzten Sekunden genießen.

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